Heißes Blut: Anthologie (German Edition)
…?«
»Oh, derlei Dinge geschehen ständig.« Sein nüchterner Ton machte seine Worte nur noch beängstigender. »Die menschliche Rasse ist größtenteils dumm, leichtsinnig, mörderisch oder zumindest selbstmörderisch, und das Oberste Gericht braucht alle Muskelkraft und Geschicklichkeit, die wir aufbringen können, um sie vor der Selbstzerstörung zu bewahren.« Sanft drehte er Grace um, damit sie ihm in die Augen sah. »Morgana sagt, dass wir dich brauchen, Grace.«
Für eine Sekunde schwankte sie.
Aber dann erinnerte sie sich an ein geliebtes, leichenblasses, eingefallenes Gesicht vor einem Berg von Kissen. »So wie ihr meine Mutter nicht gebraucht habt?«
Lance zuckte zusammen. »Majae haben große Macht. Wir müssen vorsichtig damit sein, wem wir sie zuteilwerden lassen. Nach dem, was mit Clarice geschehen ist, dachte ich, du würdest das verstehen.«
»Meine Mutter war nicht wie Clarice.« Grace wandte sich ab, um zu der Kücheninsel zu gehen, auf der die Gerichte standen, die Lance vorbereitet hatte. »Mom hat ihr Leben lang vor Morgana gebuckelt und gedienert und auf die Gabe gehofft. Sie hat sogar den Mann geheiratet, den Großmutter für sie ausgesucht hatte, obwohl der Himmel weiß, dass sie ihn nie geliebt hat. Warum hätte sie ihn auch lieben sollen? Er war ein brutaler Schuft und drogensüchtig noch dazu. Zu den Latenten zu gehören, war das Einzige, was für ihn sprach.«
»Morgana dachte wahrscheinlich, sie würden Kinder zeugen, die der Gabe würdig wären.« Sie blickte auf und sah, dass Lance sie beobachtete; seine sherrybraunen Augen waren warm von Mitgefühl. »Und so war es ja auch.«
Um sich zu beschäftigen, begann sie, den Teller zu füllen, der neben dem Essen stand. »Nun ja, das war aber auch das Einzige, was er als Vater auf die Reihe brachte. Jedenfalls machte er sich davon, so schnell er konnte. Erinnerst du dich an Mrs. Laceys Haus? Es war kein Scherz, als ich sagte, es erinnerte mich an meine Kindheit. Manchmal schliefen wir im Winter in der Küche, mit eingeschaltetem Gasherd und bei offener Ofentür, weil Mom kein Geld für Heizöl hatte. Es ist ein Wunder, dass wir das Haus nicht niedergebrannt haben.«
Als sie aufblickte, starrte Lance sie entsetzt an. »Das wusste ich nicht, Grace. Ich hätte …«
»Es war nicht deine Sache, Lance. Wenn überhaupt jemand sich hätte kümmern müssen, dann Morgana, aber die hatte wegen Moms Drogenabhängigkeit jede Verbindung zu ihr abgebrochen.«
»Damit hattest du nichts zu tun. Du warst ein Kind. Und wenn es so schlimm war, hätte Morgana dich von dort wegbringen sollen.«
»Das wollte ich nicht.« Grace’ Löffel schlug hart gegen den Teller. »Morgana wäre keine Verbesserung für mich gewesen. Meine Mutter liebte mich wenigstens, während meine liebe Großmutter nichts anderes liebte, als die Welt zu retten.«
»Machst du sie nicht ein bisschen zu schlecht? Immerhin hat Morgana dafür gesorgt, dass deine Mutter im Sanktuarium aufgenommen wurde, nachdem sie an Krebs erkrankt war. Und sie hat dich bei sich aufgenommen.«
»Ja, aber dann hat sie mich die meiste Zeit nur ignoriert. Du warst der Einzige, dem nicht egal war, was mit mir geschah.« Grace nahm ein Messer, um eine Scheibe von dem perfekt gebratenen Filet abzuschneiden, doch sie säbelte nur wild daran herum. »Weißt du, an dem Abend, als sie mich zum ersten Mal zum Mageverse brachte, flehte ich sie an, meiner Mutter die Gabe zuteilwerden zu lassen. Aber sie lehnte es glattweg ab.« Grace umklammerte so fest das Messer, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, als sie sich an ihre hilflose Wut erinnerte, die sie in diesem Moment empfunden hatte. »Dann sagte sie: ›Aber wenn du erwachsen bist, werde ich sie dir geben.‹ Ich war sechzehn – ich wollte die verdammte Gabe nicht, sondern meine Mutter! Und Morgana ließ sie einfach sterben. Ihre eigene Tochter, und es kümmerte sie nicht die Bohne!«
Lance nahm ihr sanft das Messer und die Gabel ab. »Lass mich das machen – du verhunzt das Fleisch nur.« Mit sauberen, geübten Bewegungen schnitt er es auf. »Morgana hat sehr lange eine äußerst schwierige Arbeit geleistet. Es hat sie … hart gemacht. Aber nicht jeder am Hof ist so.«
»Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen, Lance! Nach Moms Tod habe ich fünf Jahre am Hof gelebt, bis ich einundzwanzig war. Ich weiß sehr gut, wie sie dort sind. Natürlich gibt es einige, die mir anständig erschienen, doch die Mehrheit ist kalt, rücksichtslos und
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