Heißes Versprechen
Morgengrauen hörte sie, wie er nach Hause zurückkehrte. Es herrschte ungewöhnlich viel Lärm im Treppenhaus. Zunächst hörte sie die gedämpften Stimmen zweier Diener, dann herrschte Stille.
Sie wartete so lange, wie es ihr unter der Anspannung möglich war, dann trat sie in den Flur hinaus. Ein paar Sekunden verharrte sie und lauschte. Die gedämpften Geräusche der üblichen Morgenarbeiten waren noch nicht aus der Küche zu hören. Das Personal lag, abgesehen von den beiden Dienern, noch in den Betten.
Vorsichtig lief sie zum anderen Ende des Flurs und klopfte leise an Artemas’ Tür. Niemand antwortete. Der Mann hatte sich den Schlaf verdient, dachte sie. Sicher war er vollkommen erschöpft.
Enttäuscht wandte sie sich ab. Sie würde bis zum Morgen warten müssen, ehe sie die Antworten zu ihren Fragen erfahren würde.
Ohne Vorwarnung öffnete sich die Tür. Artemas stand mit vom Bad noch feucht glänzenden Haaren in der Tür. Er hatte die Hose und das Hemd abgelegt, das er beim Verlassen des Hauses zusammen mit Zachary getragen hatte, und trug wieder seinen schwarzen Morgenmantel. Jetzt wurde ihr klar, dass die Geräusche, die sie vorhin gehört hatte, von den Dienern herrührten, die ihm heißes Wasser gebracht hatten. Artemas war gerufen worden, um sich um eine Leiche zu kümmern, erinnerte sie sich. Unter solchen Umständen würde sie auch ein Bad genommen haben.
»Ich dachte mir schon, dass Sie es sein könnten, Madeline.«
Trotz ihrer brennenden Neugier blickte sie nochmals den Flur zurück. Zwar war dies ein ungewöhnlicher Haushalt, gleichwohl würden die Bediensteten dennoch lästern, wenn sie sie in Artemas’ Schlafzimmer verschwinden sehen würden. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass niemand im Flur war, schlüpfte sie in den Raum. Die Wanne, die er eben benutzt hatte, stand vor dem Kaminfeuer und wurde teilweise von einem Paravent abgetrennt. Feuchte Handtücher hingen darüber. Ein Tablett mit Tee, einer Tasse, Untertasse und einem Teller mit Brot und Käse stand auf dem Tisch. Das Essen schien bisher nicht angerührt worden zu sein.
Sie blieb ruckartig stehen, als sie die allein stehende bernsteinfarbene Kerze auf einem Seitentisch entdeckte. Schlagartig war ihr klar, dass es sich um eine Vanza-Kerze handelte. Das schmelzende Wachs verströmte einen leichten, mannigfachen und besonderen Duft, der einzigartigen Mischung verschiedener Vanza-Kräuter. Artemas war ein Meister des Vanza. Jeder Meister stellte seine ganz eigene Kräutermischung zusammen, die seine Kerzen von denen anderer Meister unterschied.
Sie hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, und drehte sich um. Das mulmige Gefühl, mit dem sie hereingekommen war, verstärkte sich. Artemas’ Gesicht war verschlossen und bestand nur noch aus harten Kanten und grimmig verzogenen Linien. Sofort war ihr klar, dass der Tote, wer immer er auch gewesen sein mochte, ihm nicht fremd war. Doch entdeckte sie keine Trauer in seinen Augen, lediglich eine nur notdürftig beherrschte Wut.
Noch nie war er ihr so gefährlich erschienen wie in diesem Moment. Sie wurde unsanft daran erinnert, dass trotz der Intimitäten, die zwischen ihnen stattgefunden hatten, sie sehr vieles über diesen Mann nicht wusste.
»Es tut mir Leid, Sie bei Ihren Meditationen zu stören, Sir.« Sie zog sich langsam zur Tür zurück. »Ich lasse Sie in Ruhe. Wir können später reden.«
»Bleiben Sie.« Das war ein Befehl. »Ob Sie es gewollt haben oder nicht, Sie haben sich in meine Angelegenheiten gemischt, als wir unseren Pakt geschlossen haben. Es gibt Dinge, die ausgesprochen werden müssen.«
»Aber Ihre Meditation ...«
»Ein nutzloser Zeitvertreib, um es milde auszudrücken.« Er durchquerte die Schlafkammer bis zu dem kleinen Tisch, beugte sich herunter und löschte die Kerze.
Sie verschränkte die Hände und sah ihn an. »Wer war er denn, Artemas?«
»Sein Name war Charles Oswynn.« Artemas beobachtete die dünne Spur rauchigen Rußes, die von der gelöschten Kerze aufstieg. »Er war einer der drei Männer, die eine Frau namens Catherine Jensen auf dem Gewissen haben. Eines Nachts haben sie sie zum Spaß entführt und anschließend vergewaltigt. Als sie zu fliehen versuchte, kam sie zu Tode. Ihre Leiche wurde drei Tage später von einem Bauern gefunden, der seine Schafe suchte.«
Die gleichmäßige Betonung seiner Worte verstärkte lediglich deren Wirkung.
Madeline regte sich nicht. »War sie mit Ihnen befreundet?«
»Mehr als nur
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