Heisskalte Glut
sie hatte blauen Himmel und frische Luft gehabt und mit
Spannung erwartet, wieviele Insekten und Würmer sich unter einem hochgehobenen
Baumstamm versteckten. Sie hatte wilde Beeren direkt vom Strauch gegessen. Ab
und zu hatte sie eine Pfeilspitze gefunden und ihren eigenen Pfeil und Bogen
aus gespitztem Holz und einer alten Angelrute gebastelt. Die Vergnügungen
hatten ihr einen Kräftevorrat verschafft, von dem sie in schlechten Zeiten
zehrte.
Die Holzbohlen knarrten unter ihren Füßen, als sie auf die hintere
Tür zuging. Auf der Veranda standen früher mehrere Schaukelstühle, auf denen
man einen schönen Sommerabend genießen konnte. Das Angelzeug hatte ins
Bootshaus gehört, ein paar der Gerätschaften lagen jedoch immer auf der
Terrasse herum: eine Angelleine, ein reparaturbedürftiger Schwimmer,
verschiedene Köder und Haken. Jetzt allerdings war die Veranda vollkommen
leer. Jetzt war sie kein Treffpunkt mehr für übermütige Jugendliche oder ein
Liebesnest für Erwachsene.
Sie ging zu dem Fenster hinüber, von dem aus
sie Lindsey und Gray bei der Liebe beobachtet hatte. Das Zimmer war leer und
die Dielen mit einer dünnen Schicht Staub bedeckt. Einen Moment lang stand sie
da und erinnerte sich an den so weit zurückliegenden Sommertag, der von dem
Zauber der Kindheit überlagert war.
Sich abwendend versuchte sie, die hintere Tür zu öffnen.
Überrascht stellte sie fest, daß sich der Griff leicht drehen ließ. Sie hatte das Sommerhaus noch nie von innen
gesehen, sondern es lediglich das eine Mal bis auf die Veranda geschafft. Sie
trat in die Küche und sah sich neugierig um. Es mußte früher einen Kühlschrank
und einen Herd gegeben haben, denn in den Lücken, wo sie einmal gestanden
hatten, waren die electrischen Anschlüsse markiert. Sie öffnete die Schränke
und Schubladen, aber sie waren alle leer. Jedes Geräusch hallte in den Räumen.
Alles war recht sauber. Es roch nicht nach
Mäusen, obwohl die letzte Reinigung offenbar einige Wochen zurücklag. Als sie
durch die Zimmer ging, fiel ihr auf, daß in keinem der Räume auch nur eine
einzige Glühbirne war. In den zwei Schlafzimmern stand jeweils ein Schrank,
und sie schaute in beide hinein. Nichts, noch nicht einmal ein einziger
Kleiderbügel. Das Sommerhaus war vollkommen leer.
Welches der Schlafzimmer hatten Guy und Renee
benutzt? Es war egal, denn hier würde sie nichts finden. Es gab keinerlei
Nischen oder Schränke, in denen eine Leiche hätte verborgen werden können. Das
Haus gab nicht zu dem geringsten Verdacht Anlaß. Jeder Beweis war schon lange
weggewischt oder übermalt worden. Sie wunderte sich, daß sich noch niemand in
dem Haus niedergelassen hatte, wo es doch nicht verschlossen war. Aber da es
sich mitten auf dem Gelände der Rouillards befand, kamen hier nur wenige
Menschen überhaupt vorbei.
Sie wollte noch zum Bootshaus gehen, obwohl sie dort nichts
erwartete. Sie war nur zu ihrer eigenen Beruhigung hierhergekommen, daß sie
alles getan hatte, um herauszufinden, was mit Guy und Mr. Pleasant geschehen
war. Durch die Vordertür verließ sie das Haus Richtung Anlegesteg. Sowohl das
Bootshaus als auch der Anlegesteg lagen in einem etwas abgeknickten Winkel zum
Haus in einer leichten Biegung. Seit sie vor zwölf Jahren das letzte Mal hier
gewesen war, hatte man der Vegetation erlaubt, die Ufer zu überwuchern. Junge
Trauerweiden wuchsen in Gruppen am Wasser und spendeten nun viel mehr Schatten
als früher. Früher hatte man, vom Bootshaus abgesehen, vom Haus aus fast ohne
Hindernis auf den See blicken können. Jetzt aber schlugen Büsche und Bäume ihre
Wurzeln tief in den nahrhaften Boden.
Der Anlegesteg war noch gut erhalten, und sie lief bis zur Spitze.
Es war ein ruhiger Tag, die fast unmerkliche Brise schlug auf dem Wasser
Wellen, die rhythmisch gegen die Poller klatschten. Es war einer dieser heißen,
trägen Tage, an denen sie sich auf den Rücken legen und die dicken weißen
Wolken beobachten wollte, die über den blauen Himmel trieben. Vögel
zwitscherten in den Bäumen, ein Fisch sprang plätschernd und ohne den Frieden
zu stören aus dem Wasser. Weiter links glitt ein rotweißes Etwas friedlich über
die Wellen . .
Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, während sie sich langsam
umwandte. Ein Fischerboot bedeutete, daß jemand fischte. Jemand, den sie wegen
des Bootshauses bisher nicht gesehen hatte. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht
folgte ihr Blick der Angelrute, die sich elegant aus dem Wasser bog. Die Angel
wurde
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