Heiter. Weiter.
Open-air-Musik geboten - Hardrock bis Musette. Mitten in der tanzenden, wogenden Menge ein auf Ausschweifung hoffender Wanderer.
Nicht nur das Ankommen, auch das Loslassen ist von Bedeutung
Bei der Überlegung, was wichtiger ist, der Weg oder das Ziel, wird ein entscheidender Schritt übersehen: Der Schritt zum Aufbruch! Nicht nur das Gehen und Ankommen, auch Loslassen und Verlassen sind von großer Bedeutung. Ein Aufbruch muss gewagt werden. Es ist nicht so einfach, das gewohnte und vertraute, sichere und bequeme Zuhause zurückzulassen. Oder unterwegs: Die freundliche Herberge, das interessante Städtchen, der angenehme Mitpilger - adios! Und es folgt kein „bis bald“, kein „à bientôt“, kein „hasta pronto“.
Im Leben müssen wir immer wieder loslassen. Das Ende einer Liebe, die Aufgabe einer falschen Gewissheit, der Verlust des Arbeitsplatzes, das Gestern - alles Abschiede. Eines Tages werden wir auch unser Leben loslassen müssen. Auf dem Jakobsweg lernt man das Loslassen.
Ich verlasse Villersexel. In Esprels hat ein Laden geöffnet, den unterstütze ich gerne. Die Kundschaft erfährt, dass es morgen gewittern soll. Na und? Nichts kann mich mehr erschüttern, nichts bringt mich ab von meinem Ziel Santiago, aber alles näher. Der Ort Thieffrans steht als nächstes auf der Wanderkarte und somit auf der heutigen Tagesordnung. Mir rinnt der Schweiß von der Stirne heiß. Da:
Verführerisch klar sprudelt der Strahl aus steingefasstem Rohr. Es ist heiß, das Wasser sicher angenehm kühl. Erfrischend. Soll ich es versuchen?
Es gibt Wanderer, die sind etepetete hinsichtlich Essen, Unterkunft, Toiletten. Doch am Brunnen, vor dem Rohre, öffnen sie ihr durstiges Mäulchen, laben den ausgetrockneten Gaumen. Sie haben viel Geld in Ausrüstung und Anfahrt gesteckt, sparen sich jetzt den Kauf einer Flasche Wasser. Würden sie sich lieber das Risiko einer Magen- oder Darminfektion ersparen! Bedeutet ein Schild „Trinkwasser“ oder „eau potable“ oder „agua potable“, dann wird keine Gefahr bestehen - doch ich lasse es lieber nicht darauf ankommen.
Die hier heimischen Verdauungsorgane sind die Wasserqualität von Kindheit an gewohnt wie ein hessischer Darm den Apfelwein. Aber für Fremde? Oft ist das trinkbare Wasser aus den Brunnen stark gechlort und schmeckt entsprechend. Es gibt Pulver, mit denen kann man aus Wasser Brühe machen und es gibt Pulver, mit denen man aus Brühe Wasser machen kann. Das ist sinnvoll in ganz fernen Ländern, auf meinem Weg gab es jedoch trotz fehlender Läden und Kneipen irgendwo stets einen Menschen, der mir das Wasser reichen konnte und mein Reservoir füllte. So wurden die Etappen nicht zu Durststrecken. Meine Wohnwagen-Nachbarn auf dem Campingplatz in Montbozon bemühen sich rührend um mich mit selbstgebackenen Plätzchen und Limonade. Sprachkenntnisse sind nicht notwendig. Beim Pilgern bleiben Vorurteile auf der Wanderstrecke.
Wir müssen hinaus um Luft zu holen, um zu atmen, zu leben
Berthold Brecht erzählt im „Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus“ von Menschen, die sich in einem Haus befinden, dessen Dach brennt. Der Buddha tritt in dieses Haus und ruft den Bewohnern zu, dass Feuer im Dach ist und fordert sie auf, hinauszugehen. Aber die Leute haben es nicht eilig, fragen, ob es draußen regnet, ob da ein anderes Haus sei. Ohne zu antworten geht der Buddha hinaus. „Wem der Boden noch nicht so heiß ist, das er ihn lieber mit jedem anderen vertauschte, als dass er da bliebe, dem habe ich nichts zu sagen.“
In uns brennen Fragen nach dem Sinn des Lebens. Wir sind nicht mehr zufrieden mit unseren alten Antworten auf den Alltag. Fürchten wir nicht manchmal, zu ersticken in den Rauchschwaden der Banalität? Wir müssen hinaus um Luft zu holen, um zu atmen, zu leben. Doch dafür müssen wir hinaus ins Unbekannte, Ungewisse.
So auch ich an diesem Morgen in Montbozon. In der Nacht grollte ein gewaltiges Gewitter, das aber meinem Gemüt und Zelt nichts ausmachte. Einmal musste ich so dringend raus, dass ich nicht lange überlegen konnte, ob es draußen regnete.
Jetzt, kurz nach sechs in der Frühe, muss ich erneut raus, ganz dringend: Die Rezeption auf dem kleinen Campingplatz war bei meiner gestrigen Ankunft nicht besetzt. So baute ich nach Rücksprache mit als Dauercamper eindeutig auszumachenden Personen mein Zelt auf. Doch es kam niemand, um mich abzukassieren. Das ist mir auf Plätzen, die der örtlichen Gemeinde gehören, genannt „camping
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