Helden-Maus
Dor Irene tatsächlich im Schlossgraben die Kleider vom Leib gerissen? König und Königin hatten recht ruhig gewirkt, als er Audienz bei ihnen hatte, doch vielleicht waren sie ja in ihrer jungen, lebhaften Zeit anders gewesen. Ob die kleine Ivy einmal konservativ und mürrisch werden würde, wenn sie erst erwachsen war? Oder Esk selbst? Was für eine fürchterliche Aussicht!
Bald hob sich der Vorhang wieder. Der zweite Akt spielte im Thronsaal von Schloss Roogna. Der König saß auf dem Thron, neben ihm stand die Königin. Beide waren genauso humorlos, wie es ihre ganze Generation zu sein schien. Die Musik war pompös und ernst, wie es der königlichen Familie ziemte.
»Mein Lieber, wir müssen etwas wegen unserer Tochter Irene unternehmen«, sagte die Königin.
»Umsonst heiße ich nicht König Trent«, erwiderte der König feierlich. »Was stimmt denn nicht mit dem Mädchen?«
»Sie ist einsam.«
»Daran wird sie sich schon gewöhnen, Iris. Das haben wir schließlich auch getan. Einsamkeit ist gut für Könige.«
»Ich meine, wir sollten sie irgendwohin schicken, wo sie unter Mädchen ihres Alters ist. Hier hat sie niemanden zum Spielen.«
»Und was ist mit Dor? Der ist doch nur ein Jahr älter als sie.«
»Er beachtet sie nicht. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich mit Gegenständen zu unterhalten.«
»Er sollte sich lieber mit seinen Hausaufgaben beschäftigen! Schließlich soll er nach mir ja einmal König werden, weißt du. Da muss er sehr viel lernen.«
»Ich weiß, Lieber. Aber…«
Nun begann der König mit einem langatmigen Vortrag über seine Verantwortung für das Königtum und darüber, weshalb ein angehender König dies alles lernen müsse. Esk wurde erst ungeduldig, dann langweilte er sich; er hatte keinerlei Aussicht, jemals König zu werden, daher interessierte er sich auch nicht für dieses Thema.
Plötzlich kam Cherie Zentaur hereingetrabt, wobei sie Dor am Ohr hinter sich herzog. »Wisst Ihr, wobei ich diesen Bengel erwischt habe, Euer Majestät?« fragte sie mit rechtschaffenem Zorn.
»Gewiss werdet Ihr es mir gleich in aller Ausführlichkeit berichten«, murmelte König Trent, und Esk lächelte; dieses Gefühl kannte er.
»Er hat Ihrer Tochter die Kleider vom Leib gerissen!« sagte Cherie empört.
Esk runzelte die Stirn. Das klang nicht überzeugend. Den Zentauren war die Enthüllung des Körpers gleichgültig, da sie selbst keine Kleider trugen. Selbst wenn Dor und Irene mehr getan haben mochten, als sich nur zu küssen, wäre das der Zentaurin egal gewesen; denn Zentauren betrachteten sexuelle Vergnügungen als normale, natürliche Funktionen.
Es war vielmehr Dors erbärmliche Rechtschreibung, die Cheries Zorn hätte erregen müssen.
»Wie?« wollte der König wissen.
»Im Schlossgraben«, fuhr Cherie fort. »Wenn ich nicht rechtzeitig dort eingetroffen wäre…«
Der König musterte den niedergeschmetterten Dor streng. »Los, junger Mann, was hast du dazu zu sagen?«
»Sie hat angefangen!« protestierte Dor.
»Und seine Rechtschreibung ist eine Katastrophe«, schloss Cherie.
»Das genügt!« rief König Trent. »Ich verbanne diesen erbärmlichen Wicht hiermit nach Mundania!«
»Nein, bitte nicht!« jammerte Dor und sank flehend zu Boden.
»Der König hat gesprochen«, verkündete Königin Iris zufrieden. »Mir hat es nie gefallen, wie dieser Junge seine Zeit mit Gegenständen vergeudet hat.«
»Sie sollten Ihre Tochter nicht einen Gegenstand nennen«, murmelte Dor bei sich, und doch war seine Stimme im Zuschauerraum gut zu vernehmen. Die Musik lachte ätzend.
Ein Wächter trat ein und führte Dor hinaus, worauf der Vorhang fiel.
Esk gelangte zu der Meinung, dass ihm diese Szene nicht so gut wie die vorhergehende gefiel. Schließlich hatte Irene ja tatsächlich angefangen, und zwar auch das Küssen; Dor war vergleichsweise unschuldig gewesen. Nun hatte er gerade erst entdeckt, wie interessant Irene sein konnte – und schon wurde er ausgerechnet in das schlimmste Land von allen verbannt, ins gefürchtete Mundania. Wollten die Fluchungeheuer damit zeigen, wie ungerecht Menschen sein konnten?
Der Vorhang hob sich zum dritten Aufzug. Das Stück wurde fortgesetzt, zeigte Dor in Mundania, wo er todunglücklich war und unfähig, seine Magie anzuwenden, während Irene, ebenfalls todunglücklich, auf Schloss Roogna blieb. Vereitelte Liebe – und Esk konnte sie nachempfinden, obwohl er wusste, dass es sich hierbei um etwas handelte, das vor einer Generation hätte
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