Helden-Maus
das Gesicht und kämmte ihm das Haar, um ihn schließlich in einen ruhigen, abgedunkelten Raum zu führen. Ob sie ihm jetzt ihre Beine zeigen würde? fragte er sich. Doch sie wies nur auf den Sessel, in dem er Platz nehmen sollte: ein Möbel aus Holz, auf das man ein Kissen gelegt hatte. »Das Stück wird gleich anfangen«, sagte sie und verschwand.
So weit so gut. Er wusste, dass er sorgfältig zuschauen und -hören musste, um sich irgendeine Art von Meinung zu bilden, damit er einen kompetenten Publikumsbericht abliefern konnte. Was würde wohl geschehen, wenn ihm das Stück nicht gefiel? Würden sie ihn hinauswerfen? Er hoffte, dass ihm die Produktion zusagen würde.
Aus einem Nebenraum ertönte Musik: eine Vielzahl von Instrumenten, Saiten-, Blas- und Schlaginstrumente, die harmonisch miteinander erklangen. Esk hatte noch nie viel für Musik übrig gehabt, doch nun erkannte er, dass er ja auch nie mit wirklich hervorragender Musik konfrontiert worden war. Diese hier war sehr beeindruckend und hob seine Laune beachtlich.
Vor ihm befand sich eine Bühne, die von einem großen Vorhang verhüllt wurde, der von der Decke herabhing. Nun erhellte sich dieser Vorhang, als würde er von unten beleuchtet. Er hob sich, gab den Blick auf die Bühne frei – und Esk beugte sich interessiert vor, von der Dramatik der Musik aufgewühlt.
Die Bühne zeigte ja Schloss Roogna! In der Mitte stand stark verkleinert das Schloss und deutete somit an, dass es aus der Ferne betrachtet wurde. Der Vordereingang war zu sehen und der Schlossgraben mit einem schlangengleichen Ungeheuer.
Ein junger Mann, etwa in Esks eigenem Alter, schritt auf die Mitte der Bühne zu. Er trug gewöhnliche Kleider, aber auch ein Stirnband, das einer Krone glich.
Esk erkannte, dass der Graben wahrscheinlich nur aufgemalt war, so dass die Schauspieler nicht Gefahr liefen, hinunterzustürzen. Aber er sah äußerst echt aus: eine wirklich raffinierte Bühne.
»Wie geht es, Graben?« fragte der junge Mann, und er sprach sehr deutlich und kräftig, so dass Esk ihn gut verstehen konnte.
»Das Ungeheuer hat schon wieder in mich hineingepinkelt, Dor«, beschwerte sich der Graben.
Esk lachte; der Scherz kam für ihn völlig überraschend. Plötzlich begriff er, dass der junge Mann König Dor sein sollte, der mit unbelebten Gegenständen reden und diese zum Antworten bringen konnte; das war die Magie vom Magierkaliber, die ihn für sein Amt qualifiziert hatte. Doch es war nicht der König, wie er heute war, sondern in seiner Jugend, bevor er den Thron bestiegen hatte.
»Na ja, das tun Ungeheuer eben, wenn sie gerade nicht die Leute beißen«, meinte Dor in vernünftigem Ton.
»Wie soll ich mich denn da sauber halten?« wollte der Graben wissen. »Ich bin doch kein Abwasserkanal!« Und dann hörte man ein paar tiefe Bläser.
»Ich bin sicher, dass du damit schon zurechtkommen wirst.« Dor schritt auf der Bühne umher und tauschte mit den anderen Gegenständen Begrüßungsworte aus, einschließlich des Schlosstors.
Als es allmählich langweilig wurde, betrat eine junge Frau die Bühne. Sie war recht hübsch, mit hellgrünem Haar, und trug ihr Kleid auf recht provozierende Art, obwohl sie ein oder zwei Jahre jünger aussah als Dor. Offensichtlich handelte es sich bei ihr um eine Hauptrolle, denn als sie eintrat, wurde die Musik recht lebhaft und melodiös. »Hallo, Dor!« rief sie, und ihre Stimme klang wohlbetont und genauso deutlich wie seine. Esk wünschte sich, dass gewöhnliche Leute auch einmal so klar reden würden!
»Oh, hallo, Irene«, sagte Dor nicht sonderlich begeistert.
»Gehen wir irgendwohin und küssen wir uns«, sagte Irene, worauf die Musik ein freches Thema spielte. Esk fühlte sich an Doris erinnert, obwohl es ein anderes Mädchen war. Doch brachte es ihn auf einen Gedanken: Ob Doris nach König Dor benannt worden war? Die Fluchungeheuer interessierten sich offensichtlich für die Leute auf Schloss Roogna, sonst würden sie dieses Stück nicht aufführen.
»Nein, ich muss mich noch mit ein paar Gegenständen unterhalten«, erwiderte Dor.
»Das Unbelebte ist dir wichtiger als ich!« erzürnte sich Irene. Die Musik rumpelte wütend.
»Na, und ob!« konterte er. »Du bist schließlich bloß ein Mädchen.«
»Ich bin eine Frau!« rief sie.
»Ha«, sagte er mit vernichtender Verachtung. Esk ertappte sich dabei, wie er versuchte, die Silbe selbst zu wiederholen, um die richtige Betonung hinzubekommen; welch eine Methode, um einen anderen
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