Heldensabbat
erinnert – aber auch dieser Zeuge blieb unergiebig.
Die jovial-hinterhältige Bruckmann-Masche war ins Leere gelaufen. Nach vierzehn Vernehmungen war der Vernehmende so weit wie zuvor – aber eine Trumpfkarte hat er sich aufgespart: die Gegenüberstellung Braubachs mit den Teilnehmern der gestrigen Abi-Fete.
Schon kurz nach 9 Uhr hatte Sibylle die telefonische Warnung von Müller II entgegengenommen, dabei aber die Folgen, die der Zwischenfall haben mußte, auch nicht annähernd erkannt. Sie wußte, daß dieser Mitschüler Rolfs als frech und vorlaut galt, und nahm an, daß er jetzt kalte Füße hatte, weil er wieder einmal zu weit gegangen war. Daß ein politischer Witz den Kopf kosten konnte, nahm die Studentin, wie die meisten ihrer Mitbürger, nicht an, noch nicht. Viele würden es erst in den nächsten Jahren begreifen und manche überhaupt nie.
Als sich im Laufe des Vormittags kurz hintereinander zwei weitere Abiturienten bei Sibylle meldeten, wurde sie unruhig. Rolf schlief noch. Sie ging in sein Zimmer und rüttelte ihn wach, keine leichte Arbeit. »Was war gestern Abend los?« fragte sie.
»Wieso gestern Abend?« fragte er schlaftrunken.
»Müller II – dieses Interview?«
»Frag mich was Leichteres, Schwesterherz«, erwiderte er. »Besser noch: Laß mich weiterschlafen.«
Sibylle ging zu raueren Methoden über; sie schüttete Rolf kaltes Wasser ins Gesicht. Jetzt erinnerte er sich. »Na, ja, es war ein guter, aber riskanter Witz«, erklärte er. »Weißt doch, wie Hans ist, er steht halt mal abseits.« Einen Moment lang betrachtete er seine Fußzehen. »Aber es war wirklich ein Bonmot.«
»Daß aber einer das Bonmot der Politischen Polizei hinterbracht hat, war wohl ganz schlecht.«
»Aber die halten doch alle dicht«, versetzte der Bruder. »Die mögen ihn doch.«
»Vielleicht doch nicht alle«, erwiderte Sibylle. »Oder man hat einen von ihnen hereingelegt.«
Sie schob ihre Examensunterlagen beiseite und überlegte: Mutter? Sie würde sie an Dr. Fendrich verweisen, aber der Jurist konnte erst etwas unternehmen, wenn ein Strafverfahren offiziell eingeleitet worden war. Sie versuchte sich zu beruhigen. Sie schaffte es nicht, zumindest ihr Gefühl sagte ihr, in welcher Gefahr Hans war. Sibylle bedauerte, gestern nicht mitgekommen zu sein, aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Vorübergehend war sie auch zornig auf den Mann ihrer Wahl, weil er sich hatte gehen lassen.
Sollte sie Hans bei Tante Gunda anrufen und warnen? Was würde die Warnung nützen? Zurückkehren mußte er ja, und dann liefe er immer noch den Häschern in die Arme.
Sibylle fuhr ins Städtische Krankenhaus. Der Anästhesist war gerade mit einer Operation fertig geworden und rauchte eine Zigarette.
»Meinst du, daß es schlimm ist, Robert?« fragte sie den Freund besorgt. »Soll ich Hans anrufen?«
»Lass mal«, erwiderte der Arzt.
»Meinst du, die überwachen schon das Telefon?«
»Möglich ist alles.«
»Aber nur ich weiß doch, wo Hans ist.«
»Gott sei Dank«, entgegnete der Freund. »Komm mit«, sagte er dann, »vielleicht ist Claus klüger als wir.«
Sie fuhren in Sibylles Wagen weg.
»Halt mal an«, sagte Robert bald. Er betrat eine Telefonzelle und wählte das Wehrbezirkskommando. Er ließ sich mit der Abteilung Heer verbinden, verlangte Oberleutnant Claus Benz und bat ihn, sofort in seine Wohnung zu kommen.
Die Strafsache Kahlen – einfacher Diebstahl im Rückfall – ist ein ganz gewöhnlicher Feld-, Wald- und Wiesenfall ohne politischen Hintergrund, aber sie wird sofort zeitbezogen, als Rindsfell, der Chef der Staatsanwaltschaft, persönlich als Ankläger in der Sitzung auftritt. Vermutlich ist der Oberstaatsanwalt nur in den Talar geschlüpft, weil ihm als Verteidiger Rechtsanwalt Hartwig gegenüberstehen wird. Seit langem wartet er darauf, seinen Angstgegner zu provozieren, aus der Reserve zu locken und nach einem verbalen Ausrutscher zur Strecke zu bringen. Dabei tut sich Rindsfell in der forensischen Arena schwer, denn Hartwig, ein Einserjurist, ist dem Oberstaatsanwalt rhetorisch wie juristisch weit überlegen.
Sowie sich im Justizpalast, einem protzigen, neoklassizistischen Mammutbau aus der Jahrhundertwende, herumgesprochen hat, daß die alten Streithähne wieder aufeinanderprallen werden, hat der Sitzungssaal sein Auditorium: Anwälte, die sich freimachen können, Richter und Referendare verfolgen als Zaungäste das Duell. Die Platzziffer des Staatsexamens kann ein Jurist auch noch
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