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Heldensabbat

Heldensabbat

Titel: Heldensabbat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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ist auch er fertig. Aus. Vorbei. Sense. Die vier Türme des altehrwürdigen Mainbacher Doms versinken im Schnee wie sein Weihnachtsurlaub, seine Beförderung zum Fähnrich, wie Mutter und Vater. Er denkt nicht mehr an Claudia, die sich inzwischen mit einem Dozenten der Universität Erlangen verlobt hat, und auch nicht mehr an Lydia, nicht an warmes Essen, nicht an Feldpost oder Marketenderware, nicht mehr an den Führer oder an den Sieg. Er läßt sich bei minus 35 Grad in den Schnee fallen und gibt alles auf, hoffend, daß die Iwans nicht dem Gnadentod zuvorkommen werden. Er fällt sofort in Schlaf, dem Vorboten des Todes.
    Und Stefan träumt den letzten Traum seines Lebens: Er steht auf der Unteren Brücke, der Stadtheiligen gegenüber, die ihren Rücken Klein-Venedig zuwendet. Kunigunda lächelt, wie sie immer lächelt, zeitlos, ein Lächeln, das auch das Tausendjährige Reich überdauern wird. Es begleitet Stefan in die weiße Nacht, an die Endstation seiner Frontbewährung.
    »Der lebt doch noch!« brüllt der Mann neben dem Fahrer des ersten Wagens einer verspäteten Rückzugskolonne, die den Erfrierenden beinahe überfahren hätte.
    Sie laden den Bewußtlosen auf. In seinem Gesicht spiegelt sich Kunigundas Lächeln, sie nehmen ihn mit zurück. Wenn Stefan Hartwig tatsächlich noch lebt, hat er Glück gehabt wie kaum ein anderer, denn hier ist jeder so mit dem eigenen Überleben beschäftigt, daß für den Nächsten keine Kraft mehr bleibt und auch keine Zeit.
    Dieser 11. Dezember 1941 ist der Tag, an dem Hitler den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg erklärt.
    Ende März kehrt der Winter noch einmal für ein paar Tage in das Regnitz-Tal zurück und scheucht den Frühling in die Flucht. Schmutziggraue Nebelschwaden wickeln sich um die vier Türme des Kaiserdoms zu Mainbach. Windstöße reißen die Ziegel von den Dächern. Pausenloser Landregen hält die Passanten weitgehend in den Häusern fest. Rheumawetter – es paßt gut zu der Stimmung der Stadtbewohner. Die wahnwitzigen Siegeshoffnungen vom Sommer des vorigen Jahres liegen unter Rußlands riesigen Schneewüsten.
    Der Angriff auf Moskau war in den Vororten zusammengebrochen. In chaotischer Flucht hatten sich die Angreifer zurückziehen müssen. »Als die Katastrophe des Winters 41/42 hereinbrach, wurde dem Führer klar, daß von diesem Kulminationspunkt an kein Sieg mehr errungen werden konnte«, heißt es im Kriegstagebuch des Wehrmachtsführungsstabes. Hitler entließ den Oberbefehlshaber des Heeres und andere Militärs und setzte sich selbst mit den Worten: »Das bißchen Operationsführung kann ja jeder machen« an die Spitze der Wehrmacht, und das war der Beginn – wie es einer seiner Generäle nennt – der »Korporalstrategie«.
    Die erste Weisung: »Halt! Keinen Schritt mehr zurück! Nicht ein Fußbreit Boden wird mehr preisgegeben.«
    Die 2. Panzerarmee und die 2. Armee weichen bei minus 52 Grad zunächst 150 Kilometer weit zurück. Die Front besteht nur noch aus einzelnen Stützpunkten; die Etappe wird zur Hauptkampflinie, verteidigt von Küchenbullen und Bürohengsten. Die Verluste sind ungeheuerlich; geschwunden ist der Nimbus der Unbesiegbarkeit des deutschen Soldaten, widerlegt die Mär, daß Russen nicht kämpfen könnten. Die Militärexperten in aller Welt sind sich weitgehend darin einig, daß Hitler den Ostfeldzug, wenn nicht überhaupt den Zweiten Weltkrieg, bereits verloren hat.
    Frauen und Mütter bangen in den Nächten den grauenden Tagen entgegen: Werden sie wieder keine Feldpost bringen oder die fürchterliche Gewissheit, wie sie gestern die Nachbarin erhielt?
    Marie-Luise Hartwig, die Frau des Rechtsanwalts, verläßt wie jeden Morgen um zehn Minuten vor 7 Uhr ihre Wohnung in der Dientzenhoferstraße, um die Frühmesse zu besuchen. Ihrem Mann und ihrer zehnjährigen Tochter hat sie ein bescheidenes Frühstück in der Küche bereitgestellt. In längstens einer Stunde wird sie ja wieder zurück sein. Der Rechtsanwalt ist erst seit kurzem wieder Zivilist; ein Freundschaftsdienst hatte ihn zur Wehrmacht eingezogen, den mitunter letzten Naturschutzpark für politisch Gefährdete. Frau Marie-Luise war froh darüber gewesen, denn viele Anzeichen hatten darauf hingedeutet, daß sich das jahrelange Kesseltreiben gegen ihren Mann dem Höhepunkt näherte.
    Dr. Hartwig kam als Schreiber zu einem Pionierbataillon und war dadurch aus der Schußlinie, aber schon einige Monate später beendete ein Truppenarzt das feldgraue Refugium: Der

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