Heldensabbat
Partei wir 1932 gewählt hätten. Das war schlichtweg idiotisch: Erstens waren wir noch gar nicht wahlberechtigt gewesen, dazu hatte es sich auch noch um geheime Wahlen gehandelt. Wer schließlich konnte nachprüfen, daß die Antwort stimmte?
Wir brauchten zwei Stunden. »Angewandter Schwachsinn«, sagte ich zu unserem Gastgeber.
»Ich hab's nicht erfunden und finde es auch nicht gut«, entgegnete er mürrisch.
»Hast du nicht Heil-Schreier und Denunzianten erlebt, die in keiner einzigen Parteigliederung waren?«
»Natürlich.«
»Sagt die bloße, meistens erzwungene Mitgliedschaft etwas über die Haltung des Betroffenen aus?« versetzte ich.
»Na ja – es ist zumindest ein äußerer Anhaltspunkt«, erwiderte Peter Stone. »Außerdem entlarven wir auf Anhieb eine ganze Menge Lügner.«
Hier hatte er recht. In München waren nahezu alle Unterlagen der Parteigliederungen von den Amerikanern in einer Papiermühle gefunden und sichergestellt worden. Mit einer einzigen Anfrage bei dem daraus entstandenen ›Document Center‹ konnte der Wahrheitsgehalt der Selbstauskunft kontrolliert werden. Bereits in der ersten, besonders kriminellen Nachkriegszeit war Fragebogenfälschung das weitaus häufigste Delikt.
Wer eine Zuzugsgenehmigung brauchte, eine Arbeitsplatzzuweisung, eine Unterkunft, wer Lebensmittelkarten beantragte, mußte einen Fragebogen ausfüllen. »Wer hat dich, du schöner Wald«, spotteten die Kabarettisten, »abgeholzt zu Fragebogen?«
Am Nachmittag machte ich meinen ersten Stadtausflug. Allein, zu Fuß. Ich ging auf den Friedhof und fragte bei der Verwaltung nach dem Grab meiner Eltern.
»Hartwig?« sagte ein Bediensteter, und erstmals stellte ich fest, daß mein Name nunmehr in Mainbach wie ein Passepartout wirkte. »Warten Sie, ich komme gleich mit und zeige es Ihnen.«
Wir brauchten nicht weit zu gehen. In einer Ecke, direkt an der Mauer, wo die Patriziergräben liegen, hatten Friedrich und Isolde Hartwig ihre letzte Ruhestätte gefunden; sie war liebevoll gepflegt, und die große Marmorplatte mußte Captain Stone mindestens eine Stange Zigaretten gekostet haben. In meiner Abwesenheit waren, wie ich gleich richtig vermutete, Tante Marie-Luise und Sibylle die fürsorglichen Friedhofsgärtnerinnen gewesen. Die Sonne fiel auf die rotblühenden Begonien und den großen Strauß weißer Margeriten. Die Hummeln summten, kletterten an den Stengeln hoch. Ich erlebte einen Dreiklang von Würde, Andacht und Leben, und ich war überrascht, weil aus meinen Gedanken ein Zwiegespräch mit Mutter und Vater geworden war.
Die Begegnung auf dem Friedhof, die ich so gefürchtet hatte, wurde zur Stunde der Besinnung. Aus der Gruft übertrug sich fühlbar eine Kraft, die mich befähigte, mich Problemen zu stellen, denen ich bisher aus dem Weg gegangen war. Die Lösung zeigte sich simpel, beinahe banal: Ich mußte mich künftig nur so verhalten, wie meine Eltern das gewünscht hätten. Ich war Abiturient, Ex-Offizier, Heimkehrer, ich würde demnächst sechsundzwanzig Jahre alt werden, doch ich war noch immer nicht mündig.
Die erste Konfrontation von Vergangenheit und Zukunft kam umgehend, als, nur wenige Meter vom elterlichen Grab entfernt, vor mir eine etwa fünfzigjährige Passantin stehenblieb und mich ansprach. »Das ist doch Stefan Hartwig?« sagte sie. »Kennst du mich nicht mehr? Ich bin Frau Ramm.«
»Rainers Mutter«, erwiderte ich und reichte ihr die Hand.
»Gut, daß du durchgekommen bist«, sagte sie, und ohne Punkt und Komma fuhr sie fort: »So ist es halt im Leben, es gibt keine Gerechtigkeit: Du warst Fähnleinführer und hast überlebt. Rainer war gar nichts bei der HJ und liegt in Rußland.«
»Ja«, entgegnete ich. »Es gibt keine Gerechtigkeit. Sie leiden unter dem Tod Ihres Sohnes. Meine Eltern«, ich wies auf das Doppelgrab, »können sich nicht mehr freuen, daß ihr Einziger heil nach Hause gekommen ist.«
Mutter Ramm betrachtete mich erschrocken. »Mein Gott, Stefan«, sagte sie, »entschuldige bitte, ich hab's wirklich nicht so gemeint.« Sie ging weiter, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, leicht gebeugt, wie so viele, die eine Last zu tragen hatten, die ihnen keiner abnehmen konnte.
Das nächste Zusammentreffen war unbefangener. Der kleine Müller I winkte mir über die Straße zu. »Prima, daß du auch nach Hause gekommen bist«, begrüßte er mich. »Jetzt sind es schon vier von der 8 c.« Wir gingen in die nächste Kneipe und tranken ein Glas Dünnbier auf das Überleben. Er
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