Heldensabbat
zog einen Zettel mit vielen Namen aus der Tasche; hinter den meisten standen Kreuze. »Sieh dir das an«, sagte er. »Ich hab' das zusammengestellt. Das war mal die 8 c. Zwei Drittel sind gefallen oder vermisst, vier zu Hause, die anderen noch in Gefangenschaft. Was die mit uns gemacht haben –«
»Was willst du anfangen?« fragte ich.
»Ich hab' keine Lust mehr zum Studium, keine Geduld und auch kein Geld«, erwiderte Müller I. »Ich geh' vielleicht zur Stadtverwaltung. Inspektorlaufbahn. Da kommst du rasch voran, da klaffen zur Zeit gewaltige Lücken.«
Als wir auseinander gingen erfuhr ich, daß von vierhundertfünfundsechzig Kommunalbeamten wegen echter oder formaler Belastung zweihundertfünfundzwanzig, von dreihundertvierundachtzig Angestellten hundertdrei von der Militärregierung gefeuert und durch unbelastete, doch meistens auch untaugliche Kräfte ersetzt worden waren. In allen Städten war die Verwaltung wie ein Wasserkopf angeschwollen: In Passau arbeiteten zwölfhundertzweiunddreißig Angestellte anstelle von sechshundertsiebenundvierzig für das Narrentreiben der Bürokratie. Die Militärregierung machte mit einigem Erfolg Regierungsräte zu Straßenkehrern, aber als sie Straßenkehrer in den Stand von Regierungsräten erhob, mußte sie Schiffbruch erleiden.
Die Stunde Null wurde zur Zeit der Nullen. Gas- und Stromversorgung, Gesundheitsfürsorge, Müllabfuhr, nichts funktionierte mehr; man mußte Ausnahmeregelungen treffen und Belastete wieder einstellen. Solange alle Ex-Parteigenossen das gleiche Schicksal getroffen hatte, war es ihnen erträglich erschienen, aber die aus der Not geborenen Bevorzugungen einzelner führten zu Explosionen des Selbsterhaltungstriebes, förderten Mißgunst, Verleumdung und Selbstgerechtigkeit.
Über die beiden Regnitzarme, zwischen denen die Innenstadt Mainbachs liegt, führten Notstege. Ich balancierte hinüber und ging am Ufer entlang zur Dientzenhoferstraße. Marie-Luise Hartwig war gerade dabei, einen Besucher zu verabschieden, als ich auftauchte.
Sie begrüßte mich ergriffen wie einen eigenen Sohn. »Sie kennen doch meinen Neffen Stefan?« sagte sie zu dem etwa sechzigjährigen Mann mit dem verhärmten Gesicht. »Oberinspektor Breuer«, stellte sie vor. Er verneigte sich förmlich. »Also, kommen Sie morgen nachmittag vorbei«, verabschiedete ihn meine Tante.
Es war mir klar, daß es sich um einen Bittsteller handelte.
Die Witwe meines Onkels war immer eine zurückhaltende, fromme Frau gewesen; ihr Glaube gab ihr jetzt die Kraft, die oft aufdringliche Verehrung vieler Mainbacher ebenso zu ertragen wie zuvor ihre Isolierung.
»Stellst du schon wieder mal einen Persilschein aus?« rügte ich sie.
»Kennst du den Mann nicht?« fragte meine Tante. »Einer der Anständigsten und Unauffälligsten in Mainbach. Damals, als Wolf auf den Tod warten mußte, hat er versucht, mir beizustehen, zweimal sogar auf der Straße. Dabei war Breuer Parteigenosse und Blockleiter. Er hat wirklich nur die Beiträge einkassiert, und auch das nur, weil die anderen alle eingezogen waren.«
»Aber das wird die Spruchkammer wohl auch ohne deine Beihilfe feststellen können«, entgegnete ich.
»Sei nicht so streng, Stefan«, versetzte sie. »Du kennst doch den Versicherungsjuristen Claus Benz vom Wehrbezirkskommando?«
»Dr. Fabers Freund.«
»Ja, sein Freund, und was für einer! Als der Ordinarius verhaftet werden sollte, hat Claus Benz ihn über Nacht zur Wehrmacht in Sicherheit gebracht. Er hat dabei sein Leben riskiert. Hans Faber wäre es vielleicht ebenso ergangen wie meinem Mann.«
Ich war verblüfft. Meine Tante hatte ja recht. Hans hatte mir an der Front den Geniestreich seines Freundes geschildert.
»Meinst du, es war falsch, Claus Benz einen Persilschein auszustellen?« fragte mich die streitbare Witwe.
»Nein, sicher nicht«, erwiderte ich.
»Meinst du, es wäre falsch gewesen, deinem Vater einen Persilschein zu geben, falls er ihn noch verwenden könnte?«
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.
»Na also«, erwiderte Marie-Luise Hartwig. »Laß dich nicht zu sehr von Captain Stone beeinflussen, auch wenn er ein fabelhafter Kerl ist – in diesen Dingen freilich noch betriebsblind.«
Diese bescheidene, großartige Frau brachte mich zum Nachdenken. Es gab kein Schwarz-Weiß, noch nicht einmal ein Schuldig oder Unschuldig. Daß im Dritten Reich, dem neunhundertachtundachtzig Jahre an seiner angemaßten Dauer fehlten, doch ziemlich viele versteckte wie auch mehr
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