Heldensabbat
Tisch.
»Sechzig Pfennig«, sagt sie.
Stefan fummelt an seiner Geldbörse. Aber da hat Claudia schon bezahlt.
»Das geht nicht«, sagt er heftig.
»Du kannst es mir ja wiedergeben«, lacht sie.
Er greift sofort wieder in den Geldbeutel.
»Jetzt doch nicht.« Sie legt ihre Finger auf seine Hand. Sein Portemonnaie fällt zu Boden. Er bückt sich, haut sich den Kopf gegen eine Tischkante, wirft beim Aufstehen einen Stuhl um.
Claudia ist schon ein paar Schritte vorausgegangen.
Wie ein Hund läuft er ihr nach. Hinter seinem Rücken spürt er das Feixen der Kameraden. Erst nach hundert Metern hat er den Mut, ihr vorzuschlagen: »Wir können ja noch etwas Spazierengehen.«
»Ich muß nach Hause.«
Stefan sieht sie an. Die weiche, frische Luft verwirrt ihn. Und ihre Nähe. Und ihr Profil. Und gleich ist das Ende der Anlagen erreicht, sind sie wieder in der Stadt, Mitschüler zueinander, sonst nichts.
»Du, Claudia«, keucht er und bleibt stehen.
»Was ist?« fragt sie weich. Sie sieht ihn offen an.
Jetzt, denkt er, jetzt! Aber er kann es nicht. Er kann weder sagen, was ist, noch tun, was er möchte. »Es ist – sehr schön heute Abend.«
Sie betrachtet ihn lächelnd. Lange sieht sie ihn an. Aber er steht reglos vor ihr.
»O ja«, antwortet sie.
Dann stehen sie an Claudias Haustüre. Sie verabschiedet sich schnell.
»Du«, sagt er leise.
Sie dreht sich noch einmal in der Türe um. Behend verschwindet sie im Hausgang.
So ist das, denkt Stefan. Dann fallen ihm die Jungen aus seinem Fähnlein ein. Er sieht ihre grinsenden Gesichter vor sich. »Euch werde ich morgen schleifen!« murmelt er vor sich hin.
Der Altweibersommer weicht in diesem Jahr nur zögernd dem Herbst. Die Ernte ist eingebracht. Und als das Getreide gedroschen ist, beginnt die Propagandaleier auf Übertouren leeres Stroh zu dreschen. Goebbels präpariert die Bevölkerung mit Tschechenhaß. Die Nachrichtensendungen des deutschen Reichsrundfunks werden zur Greuelsammlung. Nur wenige begreifen, daß diese Horrorszenen des Sadismus weitgehend erfunden sind, daß Zwischenfälle aufgebauscht oder provoziert werden. Militärkolonnen rasseln durch die Stadt; der Führer ist entschlossen, die Sudetendeutschen heimzuholen ins Reich, und wenn es deswegen Krieg gibt. Die Bevölkerung zeigt wenig Begeisterung über die militärischen Schaustellungen.
Dr. Faber flüchtet wie manchen Abend vor den lärmenden, hetzenden Lautsprechern in den Hain, schlendert am trägen Fluss entlang. Pfeilschnelle Achter, von Kommandos vorwärtsgepeitscht, trainieren für die Herbstregatta. Im vorderen Boot sitzt einer seiner Schüler, Müller I, der Kleinste der Klasse, als Steuermann. Er unterbricht den Rhythmus seiner Kommandos und schreit in das Megaphon quer über die Regnitz: »Guten Abend, Herr Doktor!«
Dr. Faber winkt ihm lächelnd zu. Dann geht er weiter, passiert den Botanischen Garten, kommt an den Schwanenteich. Die letzten Tage seines Unterrichts sind ohne Zwischenfall abgegangen. Dr. Faber ist nicht der Mann, der blindlings in die Fallen der Zeit stürzt. Er balanciert ebenso geschickt wie vorsichtig am Abgrund entlang. Trotzdem kann es jeden Tag zu einem Absturz kommen.
Die Dämmerung liegt wie ein durchsichtiger Schleier über dem Park. Die Pärchen drängen sich enger aneinander. Im kühlen Hauch des Abends wird ihnen noch wärmer. Die Bäume entschließen sich in diesem Jahr nur zögernd, ihre Blätter fallen zu lassen. Die Sandwege sind blitzsauber, wie aufgewischt. Der Herbst liegt in der Luft. Schwer, feucht und ein wenig traurig wie immer.
Der Ordinarius erreicht den Heinrichsdamm, kommt auf die Straße, passiert das Priesterseminar, das der Kreisleiter »Pfaffenfabrik« zu nennen pflegt. Vor und hinter ihm gehen die Menschen paarweise, Verliebte voller Hoffnungen und Zerlebte voller Enttäuschungen. Es ist fast finster, als er vor seiner Wohnung steht.
Von der Wand löst sich ein Schatten, geht mit leichten Schritten auf ihn zu. »Herr Dr. Faber!«
»Ja«, antwortet er überrascht.
Jetzt erst erkennt er das Mädchen. Es ist Sibylle Bertram, die Schwester eines Schülers.
»Ich habe heute schon ein paar Mal bei Ihnen angerufen«, sagt sie hastig. »Ich muß Sie sprechen.«
Er schließt die Tür auf, macht Licht an, sieht in Sibylles erregtes Gesicht. Er hat sie auf einer Geburtstagsfeier kennen gelernt und dann wieder aus den Augen verloren. Ab und zu treffen sie sich auf der Straße und wechseln ein paar belanglose Sätze miteinander. Ihr
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