Heldensabbat
Bruder Rolf ist ein Schüler seiner Klasse. Sicher handelt es sich um ihn, denkt Faber.
»Es ist wichtig«, beginnt Sibylle. »Ich muß Sie warnen. Eine dumme Sache. Ich konnte sie nicht verhindern.«
»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, erwidert der Assessor. Er betrachtet Sibylle lächelnd. Ihr Gesicht ist regelmäßig und doch nicht langweilig, jung und doch ausdrucksvoll. Ihre brünetten Haare zeichnen den Umriss ihres Kopfes nach. Er ist schmal, die Gesichtshaut gebräunt, so daß sie sportlich und frisch wirkt. Sie trägt einen weißen Pullover zu einem knappsitzenden, dunkelgrauen Flanellrock. Alles an ihr stimmt, passt. Das stellt Dr. Faber fest, und erst jetzt hört er ihr richtig zu.
»Rolf«, fährt sie fort, »hat heute mittag beim Essen –« Sie stockt. »– hat ein paar Sätze aus Ihrem Geschichtsunterricht zitiert und sicher dabei übertrieben. Außerdem ist er ja Jungzugführer und sehr stolz darauf.« Sie lächelt flüchtig. »Ich versteh' ja nicht allzu viel von Politik«, sagt sie mit feinem Spott und setzt hinzu: »Aber mein Vater kennt in diesen Dingen keinen Spaß.« Sie zuckt die Schultern, sieht auf die im Zimmer verstreuten Bücher. Dann gleiten ihre Augen wieder zu Faber zurück. »Vater faselte etwas von liberal, Verrat und so. Er polterte darauf los und war außer sich.«
»Tut mir leid«, erwidert der Assessor, mäßig beunruhigt.
»Ich konnte nichts dagegen tun. Er ist heute nachmittag zu Dr. Schütz, dem Direktor des Gymnasiums, gegangen und hat sich über Sie beschwert.«
Fabers Augen lösen sich von dem Mädchen. Etwas greift nach ihm, läuft an der Wirbelsäule entlang zum Nacken. Jetzt ist es also soweit, denkt er. Jetzt hast du deinen Hals in der Schlinge. Die Treibjagd beginnt. Der Kugellagerfabrikant ist nicht zu unterschätzen: Er stiftet Sportgeräte, Preise, Stipendien, benimmt sich immer ein wenig so, als würde ihm die Schule gehören. Er ist ihr ständiger Ehrengast bei allen Gelegenheiten.
Dr. Faber nimmt sich zusammen, versucht, seine Unruhe zu verbergen, lächelt unsicher. »Danke für die Warnung«, sagt er.
»Das Schlimmste kommt noch«, entgegnet Sibylle. »Ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt.«
Dr. Faber hebt den Kopf, ordnet seine Gedanken, ruft seine Augen zurück.
»Mein Vater ist ein Querkopf. Es wird immer schlimmer mit ihm. Mit den Dividenden wachsen seine Gallensteine. Mit der Wirtschaft geht es steil aufwärts. Das ist ihm in den Kopf gestiegen.«
Der Assessor nickt.
»Der Schulleiter, Dr. Schütz, mag Sie wohl nicht besonders?« fragt das Mädchen unvermittelt.
»Ich weiß nicht«, entgegnet er. »Warum fragen Sie?«
Sibylle zögert, sieht unschlüssig auf ihre Hände. »Ich kann es Ihnen nicht verschweigen«, erwidert sie mit unsicherer Stimme. »Dr. Schütz hat meinem Vater versprochen, Sie so rasch wie möglich vom Gymnasium zu entfernen.«
»Das kann er doch gar nicht«, entgegnet der Assessor. »Nicht er. Vermutlich hat er es auch nur gesagt, um Ihren Vater wieder loszuwerden.«
»Hoffentlich«, antwortet Sibylle. »Es ist ziemlich ernst. Leider.« Sie greift nach ihrer Handtasche, kramt sinnlos ihren Inhalt durcheinander. »Mein Bruder Rolf meinte es gar nicht so. Er war am meisten erschrocken, als Vater so cholerisch reagierte.«
»Ich werde die Geschichte schon hinkriegen«, erwidert Faber ohne Überzeugung, steht auf, tritt an das Fenster, dreht sich um.»Und warum sind Sie zu mir gekommen?« fragt er plötzlich. »Warum eigentlich? Ich finde es verdammt mutig und fair, aber –«
Sibylle betrachtet den Boden, neigt den Kopf nach vorne, sieht an Dr. Faber vorbei. Sie versucht sorglos, unbeschwert zu antworten. »Erstens kann ich es nicht ausstehen, wenn man einen verpetzt«, sagt sie. »Selbst dann nicht, wenn die Petze mein Vater ist.«
Der Assessor nickt. »Und zweitens?« fragt er.
Sibylle zögert, bevor sie ins kalte Wasser springt. »Ich möchte nicht, daß Sie Schwierigkeiten haben, Dr. Faber.«
»Warum?«
»Ich mag Sie«, sagt sie.
Dr. Faber richtet sich auf. In seinem Kopf dreht sich alles. Er spürt die Zukunft, ihren eisigen Atem. Und vor ihm steht Sibylle, das reizvolle Mädchen, das ihn vor ihrem eigenen Vater warnt.
Mach's doch wie in deiner Studentenzeit, geh auf sie zu, sag ihr etwas ins Ohr, zieh sie an dich, verschieb das andere auf morgen. Aber er weiß genau, daß ihm die Würde des Berufs die Bürde des Wohlanstandes auferlegt.
Sibylle steht auf, bläst sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Wir
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