Heldensabbat
ist nicht einmal Parteimitglied.«
Der Erzieher lächelt wissend. Typisch, denkt er, der Mäzen unter den Proleten. Da feiern sie im Bürgerbräukeller, daß 1923 ein Maschinengewehr der bayerischen Landespolizei schlecht geschossen hat. Und sie trinken und grölen wechselweise. »Ein Volk! Ein Reich! Ein Führer!«
Ein Schluck. Ein Ruck. Ein Rülpser.
Es ist dunstig und kalt. Trotzdem durchrieselt Dr. Faber die Wärme, als Sibylles schlanke Gestalt aus dem Herbstnebel wächst. Sie hat die Hände tief in den Taschen ihres losen, weiten Kamelhaarmantels. Die Kapuze ist über den Kopf gezogen. Das weiche, dichte Haar kräuselt sich zu beiden Seiten hervor. Verhüllt wie sie ist, sieht Sibylle aus wie die Tochter eines bösen Burggrafen aus dem Mittelalter, die riskiert, kahlen Kopfes an den Pranger gestellt zu werden, wenn der Vater sie mit einem Fremden fasst.
»Das Burgfräulein und der Raubritter«, sagt der Assessor lächelnd, als sie vor ihm steht.
»Lieben Sie Fabeln?« fragt Sibylle.
»Ja«, antwortet er zögernd, »besonders wenn sie Wirklichkeit werden.«
Auf ihrem Gesicht liegt ein versonnener Glanz. Die Nachtluft läßt ihre Züge noch weicher erscheinen.
Ich muß mich zusammennehmen, sagt sich Faber.
Sie gehen in den Hain am Stadtrand. Dort sprießen im Frühjahr und im Sommer nicht nur die exotischen Pflanzen des Botanischen Gartens, dort treibt auch die Liebe in diesen Monaten üppige Blüten. Der Hain ist der Pärchen-Park der Stadt. Jetzt, im November, ist die Jahreszeit der Zweisamkeit vorbei, aber die Liebe hat immer Saison. Unter den Schritten des Mannes und des Mädchens knirscht der harte Boden. Sie gehen nebeneinander her, als gehörten sie schon zusammen und wagten es nur noch nicht, es sich einzugestehen.
Als sie die scheelen Augen der Menschen, ihren Neid und ihre Klatschsucht hinter sich gelassen haben, hängt sie sich bei ihm ein. Er spürt den leichten Druck ihres Armes. Und er denkt: Mein Gott, wie soll das mit uns werden? Denn er weiß, daß Sibylle und ihm nicht nur ein Spaziergang bevorsteht.
»Es wird bald schneien«, sagt Sibylle.
»Mögen Sie Schnee?«
»Nein, nicht besonders«, erwidert sie entschieden.
»Warum nicht?« fragt er verblüfft.
»Ich mag nichts, was einem in der Hand zerrinnt«, versetzt sie leise.
Instinktiv fühlt Dr. Faber, daß sich hinter dem Satz eine Furcht verbirgt, die ihn und sie betrifft. Aber er lenkt schnell ab. Er erzählt ihr, daß er ein begeisterter Skiläufer sei. Sie hört nur mit halbem Ohr hin, bis er sagt: »Ich werde es Ihnen beibringen.«
»Was?«
»Skilaufen.«
Sie sieht lächelnd zu ihm auf. »Vielleicht mag ich dann Schnee. Und wo werden wir fahren?«
»Oh«, meint er. »In den Alpen.«
»Auf der Zugspitze«, entgegnet sie.
»Oder auf dem Montblanc«, antwortet der Assessor.
Sie lachen beide.
»Hoffentlich nicht in Wolkenkuckucksheim«, sagt Sibylle burschikos.
Sie bleiben stehen. Der Mann schweigt.
Das Mädchen zieht die Hand aus seinem Arm, hält den Kopf gesenkt. »Können Sie wirklich keinen Kompromiss machen?« fragt sie. »Entschuldigen Sie, Dr. Faber, es geht mich gar nichts an, aber –« Sie bricht ab, hält immer noch den Blick am Boden.
»Aber?« fragt er.
Ihre Augen sind groß, braun und feucht, wie die eines jungen Tieres.
»Aber – mein Vater hat so etwas gesagt.« Sie schluckt. »Vor ein paar Tagen erzählte er beim Essen, er habe es von Ihnen verlangt und werde Sie im Auge behalten.«
»Ach«, erwidert Faber leer.
»Ja«, flüstert das Mädchen. Es klingt schuldbewusst.
Faber legt einfach den Arm um Sibylles Schulter. Sie gehen langsam weiter. Ihre Schritte passen sich einander an, ihre Schatten verweben sich zu einem Umriss.
»Wollen Sie mir sagen«, beginnt sie wieder zögernd, »ob Sie es können? Es geht doch vielleicht auch um uns!«
Er atmet tief. »Ich will Ihnen alles erklären.« Er lächelt, weil er sich auf einmal vorkommt wie in der Geschichtsstunde. Er spricht von der Freiheit und vom Recht, von Demokratie und Tyrannei, von Hitler und von Deutschland. Er malt ihr aus, daß alles in eine Katastrophe treibe, an der er nicht schuld sein wolle.
Als er geendet hat, lächelt Sibylle hilflos. »Ich verstehe nichts von diesen Dingen«, versetzt sie, es klingt wie: Du willst mich also nicht.
»Sibylle«, sagt er gepresst, »hören Sie gut zu. Wenn ein Mensch etwas als Verbrechen erkannt hat, soll er es dann trotzdem begehen oder nicht?«
»Ist es denn so schlimm?« fragt sie
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