Heldensabbat
weiß in diesem Moment nichts mit seinen Augen anzufangen. Er sieht verlegen auf den Boden. Sein Gesicht zuckt. Er würgt an den Worten, aber der Vater läßt ihm keine Zeit.
»Was hat er im Unterricht gesagt?« brüllt der Unternehmer und deutet auf den Assessor.
»Ich – ich –« stottert Rolf.
»Los«, belfert Bertram weiter, »mach den Mund auf! Wie war das mit dem Waffenstillstand 1918? Hat dein Lehrer nicht behauptet, daß die Vernunft endlich stärker war als die Kanonen? Daß wir den Krieg auch verloren hätten, wenn diese – diese Lumpen der Front nicht in den Rücken gefallen wären?«
Der Schüler macht eine vage Bewegung mit der Hand. Ja, heißt das. Nein, heißt das. Seine Stirn glänzt schweißnaß.
Dr. Faber sieht, wie der Junge mit den Worten kämpft.
Dann gibt sich Rolf einen Ruck. Seine Lippen sind schmal und weiß. »So – nicht, nicht so, Vater.«
»Wie dann?«
Rolfs Augen lösen sich vom Boden. Sein Gesicht ist über und über rot. »Vater«, sagt er fest, »ich muß dir etwas sagen: Ich habe das alles etwas übertrieben. Das war nicht so.«
»Was? Übertrieben? Du Feigling!« Der Fabrikant hebt die Hand, als ob er seinen Sohn schlagen wollte.
Ein plötzliches heißes Gefühl kommt auf den Assessor zu. Sibylle, denkt er, sie hat Rolf überredet. Aber nein, das allein kann es nicht sein! Es ist etwas anderes, er spürt es jedes Mal, wenn er vor seiner Klasse steht, daß ihn die Jungen mögen, schätzen, achten, daß sie nur zu spröde sind, um es zu sagen, um es zu zeigen. Auch Rolf Bertram? Er sieht den Siebzehnjährigen, seine Verlegenheit, seinen Anstand, seinen zögernden Versuch, dem Lehrer zu helfen.
Dr. Faber handelt schnell. Ohne die Folgen zu bedenken, stellt er sich vor seinen Schüler, ohne zu überlegen, daß er damit seine Existenz, seine Zukunft riskiert – vielleicht nur um einem Primaner eine Ohrfeige zu ersparen.
»Herr Bertram«, sagt Faber ruhig, »Rolf hatte recht. Diese Äußerungen sind gefallen.«
Ein paar Sekunden betrachtet ihn der Fabrikant außer Fassung. Seine Augen pendeln zwischen Rolf und dem Assessor hin und her. Seine Lippen verziehen sich. Er ist zugleich verärgert und betroffen, beeindruckt und verlegen über den Zwischenfall. Er ist wütend auf Rolf, der sich vor den Lehrer stellt, erregt über den Lehrer, der den Schüler deckt.
»Ich lasse mir die Sache durch den Kopf gehen«, knurrt er kalt. »Glauben Sie ja nicht, daß Sie so weitermachen können! Ich lege Ihnen das Handwerk. Verlassen Sie sich darauf!« Bertram wendet sich abrupt ab. In der Glastüre dreht er sich noch einmal um. »Werden Sie doch endlich vernünftig, Herr Dr. Faber. Machen Sie einen Kompromiss, begreifen Sie endlich die Zeichen der Zeit!« Der Fabrikant verschwindet, noch ehe ihm der junge Assessor antworten kann.
Rolf will etwas sagen, erläutern, klarstellen. Dr. Faber fährt ihm mit einer flüchtigen Bewegung über die Haare.
Der Druck ist gewichen, nicht die Unruhe. Dr. Faber sieht Sibylle nach der Auseinandersetzung mit ihrem Vater nicht mehr. Er geht nach Hause und steht unschlüssig vor seinem Telefon. Er wagt nicht, sie anzurufen, um sie nicht vor dem Fabrikanten zu kompromittieren.
Als das Telefon klingelt, weiß der Assessor, daß ihm Sibylle zuvorgekommen ist.
»Ich glaube, es ist noch einmal gut gegangen«, sagt sie ohne Einleitung.
Faber freut sich mehr über ihre Stimme als über ihre Worte. »Das verdanke ich Ihnen – allein Ihnen«, erwidert er herzlich.
»I wo!« Sie lacht leise und verlegen.
»Wann kann ich Sie sehen?« fragt er.
Eine Sekunde bleibt es stumm im Hörer.
»Wenn Sie sich bedanken wollen – nie! Sonst – jederzeit!«
Und so sehen sie sich am anderen Tag. Und in der nächsten Woche wieder. In der dritten Woche treffen sie sich zweimal. In der vierten dreimal, jeweils nur für kurze Zeit. Sie sagen »Sie« zueinander und sehen sich an. Und dabei wissen sie beide, wie gerne sie das tun.
Noch nicht, sagt sich Faber jeden Tag. Aber je mehr er merkt, wie sehr er wünscht, sie wieder zu sehen, desto stärker wird seine Unruhe. Er ahnt, was unweigerlich kommen muß: ein Kampf, bei dem der alte Bertram die Liebe mit dem Faschismus niederknüppeln wird.
Am 8. November hat Sibylle zum ersten Mal einen ganzen Abend Zeit für ihn.
»Vater ist zur Feier der Partei nach München gefahren.«
»Ist er – Alter Kämpfer?«
»Keine Spur«, erwidert sie. »Er heult nur mit den Wölfen. Wenn Sie's nicht weitersagen, Dr. Faber, er
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