Heldensabbat
erschrocken.
»So schlimm ist es«, erwidert er ruhig.
In der Ferne stößt eine Lokomotive einen lang gezogenen Pfiff aus. Dann schlägt eine Uhr. Sie schlägt die entscheidende Stunde zwischen Sibylle und Dr. Faber.
»Schon einem einzigen Menschen zuliebe dürfte ich es nie tun.«
»Oh«, entgegnet Sibylle traurig, »warum haben Sie mir nie von diesem Menschen erzählt?«
»Sie sind es, Sibylle.«
»Ich?«
»Sie können mich nur so mögen, wie ich bin. Und wenn ich mir selbst untreu werde, dann wäre ich nicht mehr ich selbst.«
»Und? Ihnen liegt etwas daran, daß ich Sie mag?« fragt sie ruhig.
Faber gibt keine Antwort. Er zieht ihr Gesicht zu sich, schlägt ihre Kapuze nach hinten. Ihr Haar entrollt sich lang über seinen Arm, er fühlt ihren Mund, dem er lange, tapfer und aussichtslos widerstanden hat.
Ihre Lippen sind feucht und halb geöffnet.
»Dein Vater wird dich aus dem Haus werfen«, sagt Faber.
»Ja«, erwidert sie wie im Traum.
»Ich werde die Stellung verlieren, aber es ist mir egal.«
»Ja«, antwortet das Mädchen.
Er schleudert die Sätze heraus, als könne er eine Liebe, die vom ersten Tag so klar wie diese war, noch durch ein Trommelfeuer vernichten. »Und wenn du mich heiratest, haben wir kein Geld.«
»Ja.«
»Und deine Freunde werden dich schneiden – und ich werde sowieso nicht mehr viele haben.«
»Ja.«
»Und vielleicht sperren sie mich auch ein, eines Tages.«
»Vielleicht«, flüstert Sibylle, sie hält die Augen geschlossen.
Faber nimmt sie bei den Schultern und rüttelt sie sanft. »Weißt du denn überhaupt, was das heißt, mich zu –«
Sie legt ihm die Hand auf den Mund. »Ich stelle es mir wunderbar vor«, sagt sie.
Faber nimmt die Hand weg, die ihm den Mund verschließt. Er küsst Sibylle auf die Lippen, auf die Augen, auf den Hals.
»Genauso stelle ich es mir vor«, wiederholt das Mädchen glücklich. Sie hat wenig Erfahrung mit dem anderen Geschlecht, aber sie spürt auf Anhieb, daß sie dem richtigen Mann begegnet sein muß. Und Faber, der weiß, wie man Mädchen nimmt und Frauen verführt, empfindet das genauso. Er möchte die Schwester seines Schülers an sich reißen, überrennen, überzeugen, aber er stemmt sich gewaltsam dagegen, denn er will Sibylle ersparen, in den Strudel seiner Situation hineingezogen zu werden. Wenn er sich etwas aus ihr macht, muß er sie heraushalten, gewaltsam. Verbittert fragt er sich, ob er auf dem Götzenaltar dieser verdammten Zeit auch noch seine Gefühle opfern muß.
Sie sitzen auf der Bank nebeneinander, lassen sich von der Beglückung verwöhnen und von der Bangnis malträtieren.
»Ich hab' dich sofort gemocht«, gesteht Sibylle.
Faber streichelt stumm ihre Hand.
»Ich glaub', ich war vom ersten Moment an richtig in dich verliebt.« Sie spürt sein Lächeln mehr, als sie es sieht. »So was dürfte man wohl nicht sagen«, fährt sie fort. »Nicht zu einem Mann wie dir.«
»Jeder Mann hört das gerne.«
»Aber du bist doch wohl nicht Jedermann«, kontert sie schelmisch.
»Ich hoffe nicht«, versetzt er. »Ich möchte für dich etwas Besonderes sein, Sibylle, so wie du es für mich bist.«
»Aber ich ergebe mich meinen Gefühlen«, antwortet sie, »und du disziplinierst sie durch deinen Verstand.«
»Nicht durch den Verstand«, entgegnet Faber.
»Sondern?«
»Durch die Vernunft.«
»Und was ist da für ein Unterschied zwischen Verstand und Vernunft, Herr Professor?« fragt Sibylle.
Der Assessor wundert sich, wie grazil, natürlich und warmherzig die Tochter eines so grobschlächtigen Vaters sein kann. Dann weist er sich zurecht: Du bist ja auch schon angesteckt von diesen braunen Banausen und verfällst in Sippenhaftung.
»Der Verstand ist abstrakt«, erwidert der Pädagoge. »Die Vernunft unterliegt – vielleicht – der Versuchung.«
»Herrlich«, versetzt Sibylle. »Mit meiner Vernunft ist es nicht mehr weit her, und jetzt wollen wir uns an deiner vergehen.«
Sie verlieren den Begriff für die Stunde. Sie frieren nicht, obwohl die Herbstnacht kühl und feucht ist. Sie lehnen sich aneinander, an diesem ersten langen Abend, der ihnen gemeinsam gehört. Sie spüren, daß sie von nun an zusammengehören werden.
Dem Abend folgt eine furchtbare Nacht. Fast gleichzeitig sehen Sibylle und ihr Begleiter den Blutschein am Himmel. Es brennt, ganz in der Nähe.
Sie verlassen mit hastigen Schritten den Hain. Das Feuer zeigt ihnen den Weg. Und mit jeder Sekunde werden die Flammen größer, greller,
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