Heldensabbat
Hindenburg. Eintritt in den »Stahlhelm«, den Dr. Schütz aber nur im Frieden trägt. 1931 Direktorratssitzung. Studienrat Dr. Schütz schlug mit Erfolg vor, zwei HJ-Führer von der Schule zu verweisen. Und dann, 1933, als die Nullen erkannten, daß sie ganz rechts stehen müssen, um etwas zu bedeuten, sprang er blitzschnell und bedenkenlos in den braunen Sattel und ritt ohne Bravour seine Karriere auf dem Rücken der Zeit.
Werden sie es wissen? Werden sie es benutzen? fragt sich Dr. Schütz immer wieder. Und dann jeweils geht er über eine messerdünne Eisschicht der Zuversicht: Die sind ja gar nicht so, überlegt er, die machen das nicht.
Am nächsten Tag steht Dr. Klimm außerhalb der täglichen Visite, die er im Gefolge des Professors mitmacht, allein vor dem Patienten.
»Sie machen mir Sorge«, behauptet der Anästhesist.
»Herr Doktor«, erwidert Schütz hastig, »daß alles muß – es muß – glauben Sie mir doch – äh – ein Missverständnis. Nichts weiter.«
»Lassen wir das«, antwortet Dr. Klimm abweisend. Er hebt die Schultern, senkt sie gleich wieder. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß wir nie mehr darüber sprechen wollen. In Ihrem Interesse, Herr Dr. Schütz.« Er setzt sich auf den Stuhl neben dem Bett, fasst nach der Hand des Patienten, fühlt mechanisch den Puls. Sein Gesicht lockert sich. »Nein«, sagt er dann. »Diesmal mache ich mir als Arzt um Sie Gedanken. Sie stehen nicht auf, obwohl sie es sollten. Sie lassen fast Ihr ganzes Essen zurückgehen. Und dabei sind sie organisch gesund.« Er erhebt sich, geht im Zimmer auf und ab. »Kein organischer Befund«, fährt er in dozierendem Ton fort, »eher ein seelischer. Ich glaube, es ist nicht gut, daß Sie zu viel allein sind.« Er zuckt die Schultern. »Bedrückt Sie etwas?«
»Nein«, entgegnet Dr. Schütz.
»Verstehe ich nicht. Also«, verordnet der Arzt Dr. Schütz, »ab heute stehen Sie auf und gehen in die Sonne. Ich weiß schon, die Krankenhausluft ist mitunter schwer zu ertragen.« An der Tür dreht er sich noch einmal um. »Wenn Sie sich zusammennehmen, können wir Sie in einer Woche schon entlassen.«
Der Patient nickt. Seine Augen hängen starr an der Türe.
Er ist in der Hand dieses Arztes, medizinisch wie politisch. Da er so doppelt auf das Wohlwollen dieses Weißkittels angewiesen ist, wird Dr. Schütz zum beflissenen Musterpatienten. Bereitwillig legt er sich am Nachmittag im Garten in den Liegestuhl unter den Bäumen, den Schwester Alexandra – auch eine Zeugin, die er fürchten muß – für ihn bereitgestellt hat.
Hier treffen sich Punkt 15 Uhr die beiden Freunde, wechseln ein paar Worte. Bevor der Patient im Liegestuhl die Stimme des Verhaßten erkennt, steht der Ordinarius der 8 c schon vor ihm.
»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Dr. Schütz«, sagt Dr. Klimm. »Einer meiner Freunde, Dr. Faber, besucht mich gerade und möchte die Gelegenheit nutzen, um Ihnen gute Besserung zu wünschen.« Er läßt seinem Patienten nicht lange Zeit, sein Gesicht wieder zu ordnen.
»Wie fühlen Sie sich, Herr Oberstudiendirektor?« fragt Dr. Faber mit einer knappen Verbeugung. »Leider komme ich ohne Blumen – ich wollte nicht aufdringlich sein, aber Dr. Klimm meint, Gesellschaft täte Ihnen gut.«
»Vielen – äh – besten Dank«, stottert der Genötigte. »Sie wissen doch, daß Sie mir immer willkommen sind, mit und ohne Blumen«, setzt er hinzu; es klingt wie eine Verheißung, daß er seinen Assessor künftig unbehelligt lassen wird.
Längst bevor der Omnibus den Brenner erreicht, sind Fabers Befürchtungen und Hemmnisse über dem Berg. Das Wetter spielt mit, die Erde liegt unter einem wolkenlos blauen Himmel. Der KdF-Reiseleiter erweist sich als ein umgänglicher Mann. Sibylle hat der ›Kraft durch Freude‹-Organisation – sozusagen amtlich – unter dem Briefkopf der väterlichen Firma mitgeteilt, daß anstelle von Rolf Bertram nunmehr Dr. Hans Faber an der Italienreise teilnehmen werde. Sie traf sich mit dem Assessor am Münchener Hauptbahnhof, von wo auch der Italienbus abfuhr. Sie gaben ihr Gepäck ab und stiegen ein; der Name auf der Liste der Reiseteilnehmer war bereits geändert und somit alle Formalitäten erledigt, und genauso formlos und zügig erledigte sich der Grenzübergang.
Sie sitzen nebeneinander. Ihre Schultern berühren sich. Sie sehen sich in die Augen, und der Germanist spürt ihren Puls in seiner Hand. Überwältigt von einer Zweisamkeit, die sich erstmals nicht mehr nach
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