Heldensabbat
Lauschern und Zwischenträgern umdrehen muß, genießen sie ein Wunder. Es ist, als summiere sich die Bescheidenheit zum Größenwahn.
»Ist das schön«, sagt Sibylle.
»Vierzehn Tage«, schränkt ihr Begleiter ein.
»Aber jeder Tag hat vierundzwanzig Stunden«, erwidert das Mädchen. »Und jede werden wir voll ausschöpfen.«
»Und jede stiehlt uns doch die Zeit –«, antwortet Faber.
Es ist nicht zu glauben: Vor drei Tagen hatte ihn Oberstudiendirektor Schütz nach der Entlassung aus dem Krankenhaus im Geschichtsunterricht aufgesucht. Der Anstaltsleiter saß reglos auf dem Katheder. Sein Gesicht war wie aus Wachs. Er unterbrach seinen jungen Lehrer kein einziges Mal, fragte nicht und wurde nicht gefragt. Er hing leicht vornüber, das Kinn in die Hand gestützt, die Augen am Boden; er benahm sich wie ein Schüler, der das Pausenzeichen nicht erwarten kann.
Dann stand er hastig auf, nickte Dr. Faber zu, hob den Arm zum deutschen Gruß. Der Assessor geleitete ihn zur Türe. Halb schon im Gang drehte sich Dr. Schütz zu ihm um. »Ich bin sehr mit Ihrem Unterricht zufrieden, Herr Kollege«, sagte er hastig. Er sah an Dr. Faber vorbei. Sein Blick hing an der Wand, wo ein Unterkläßler ein verkehrtes Hakenkreuz aufgemalt hatte. Roberts Narkoseintrige war offensichtlich genauso glücklich zu Fabers Gunsten ausgegangen wie Sibylles Feriencoup.
Die Reiseroute geht über Mailand nach Venedig, nach Florenz und Rom. KdF: gewissermaßen NS durch PS. Die Quartiere sind vorgebucht, die Gesellschaft ist gemischt: verdiente Arbeitsfunktionäre mit ihren Frauen, eine sich rasch zusammenfindende Skatrunde, die an Contra und Re mehr interessiert ist als an den kunstgeschichtlichen Erläuterungen des Reiseleiters, Chefs mit ihren Sekretärinnen, ältere Mitreisende, die Verwandte besuchen wollen, und junge Kunststudenten – die deutsche Sehnsucht auf Römerzug.
»Du siehst«, sagt Sibylle, »man kann einen Mann auch zu seinem Glück zwingen. Böse, daß ich dich genötigt habe?«
»Nicht böse«, erwidert er. »Dankbar.« Nach einer kurzen Pause fragt er doch: »Und Rolf? War das nicht ein zu großer Verzicht für ihn?«
»Überhaupt keiner«, versichert Sibylle. »Er ist wirklich lieber auf dem Tölzer Bauernhof.«
»Aber wir haben einen Mitwisser –«
»Einen verschwiegenen«, erklärt Sibylle. »Weißt du eigentlich, wie sehr er dich mag?«
»Als Jungzugführer?« entgegnet der Erzieher mit feinem Spott.
»Die Begeisterung hat sich sichtlich abgekühlt, seitdem sein Freund Stefan als Fähnleinführer zwangsbeurlaubt wurde«, sagt sie. »Aber davon abgesehen, Rolf schätzt dich von allen Lehrern am meisten. Du hast«, setzt Sibylle hinzu und strahlt ihn an, »die Mehrheit meiner Familie bereits auf deiner Seite.« Sie lacht hell. »Du starrst mich an wie ein Wolf.«
»Kein Wunder«, räumt Faber ein. »Ich hab' auch einen Wolfshunger auf dich.«
»Die Wolfsbeute steht zur Verfügung«, erwidert Sibylle, die Versuchung in Person.
Faber sieht sie an wie nie zuvor. »Du hast die schönsten Beine, die ich je –«
»Der Pferdefuß kommt schon noch«, schränkt sie übermütig ein. »Ich muß dir etwas gestehen: Ich habe Mutter unseren Italien-Ausflug gebeichtet.«
Faber erschrickt sichtbar.
»Keine Sorge«, erklärt Sibylle und lächelt maliziös. »Der Krieg findet in der Familie statt.«
»Und deine Mutter hat das nicht verhindert?« fragt der Assessor und stößt leicht mit den Zähnen an.
»Sie meinte unter anderem«, erwidert das Mädchen, »daß ich schon seit einem Jahr volljährig sei. Und wie sieht's bei dir mit den Jahren aus?«
»Alberne Frage«, versetzt er. »Ich bin dir mindestens um sechs, wenn nicht um sieben Jahre voraus.«
»Wenn das so ist«, entgegnet Sibylle, »dann möchte ich um dich anhalten.«
Seine Hand, die ihre streichelt, stockt.
»Angenommen?« fragt sie.
»Angenommen«, erwidert er, aber auf seiner Stirn zeigen sich schnelle Falten. »Ich möchte dich heiraten, Sibylle.«
»Wann?«
»So bald wie möglich.«
»Wann?«
»Wenn Rolf das Abitur und wenn du dein Staatsexamen gemacht hast. Einverstanden?«
»Das dauert mir ein bißchen zu lange«, entgegnet sie. »Ich bin ungeduldig.«
»Nur ein paar Monate noch – bis zum Sommer.«
»Schafft Rolf das Abitur?« fragt Sibylle.
»Spielend.«
»Gut. Um meinen Abschluß brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen.«
»Aber um deinen Vater«, entgegnet er.
»Vater wird im Sommer genau so gegen uns sein, wie er es jetzt
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