Heldensabbat
Kerze. Das Heiligtum mit dem Hauptportal aus dem frühen 13. Jahrhundert ist exterritorial. Gläubige aller Pfarreien kommen hier zusammen. Beim Frühgottesdienst begegnen sich die Frau des Rechtsanwalts Hartwig, die neben ihrer Tochter Adele kniet, und die Frau des Polizeioberkommissars Bruckmann.
Sie nicken sich kurz zu und knien dann nebeneinander im Gebet.
Der zelebrierende Pater, ein dünner, großer Mann mit einem ausgezehrten Gesicht, flammenden Augen und auffallend schönen Händen, dreht sich vor Beginn des Gottesdienstes am Altar um. »Liebe Christen«, sagt er, »ich möchte ab heute jeder Messe ein Gebet für den Frieden vorausstellen.«
Rhythmisch grollt das Vaterunser durch das halbhelle Kirchenschiff. Im Raum herrschen Würde und Weihe. Kerzen flackern, ihr Schein huscht über inbrünstige Gesichter. Es sind fast immer die gleichen, jeden Morgen schon um sieben Uhr.
Mit ihrer kleinen Tochter an der Hand verläßt Marie-Luise Hartwig, eine stille Frau in mittleren Jahren, die ungewöhnlich fromm ist, ohne bigott zu wirken, das Gotteshaus. An der Ecke steht Frieda Bruckmann, als hätte sie auf die Frau des Rechtsanwalts gewartet. Tatsächlich nickt die Frau des Chefs von Mainbachs Politischer Polizei ihr zu.
»Geh schon mal voraus, Adele«, sagt Frau Hartwig und verabschiedet die Tochter mit einem kleine Klaps. »Ich komme gleich nach.«
»Entschuldigen Sie bitte, daß ich Ihnen hier auflauere«, sagt die Wartende hastig. »Haben Sie eine Minute Zeit?«
»Aber ja«, erwidert Marie-Luise Hartwig.
»Sie wissen, daß mein Mann – er leitet die Politische Polizei.«
Frau Hartwig nickt.
»Ich dürfte es Ihnen natürlich nicht sagen«, sagt Frieda Bruckmann, verhaspelt sich, nach Worten suchend. »Ich habe gestern in unserer Wohnung ein Gespräch mitgehört. Mein Mann dachte, ich sei beim Einkaufen.« Sie sieht sich nach allen Seiten um. Aber die Gläubigen sind schon auseinandergelaufen, und zu dieser Stunde, vor 8 Uhr, wirken die Straßen leer. »Der Besucher war Dr. Fibig.«
»Bei Ihnen? In der Wohnung?« fragt die Angesprochene überrascht.
»Ihr Mann fährt übermorgen nach Vierzehnheiligen zu Exerzitien, Frau Hartwig?«
»Ja«, antwortet sie.
»Dr. Fibig auch«, erwidert die Warnende.
»Aber das ist doch nichts Neues. Sie meinen den praktischen Arzt? Wir sprechen doch von dem gleichen?«
Frieda Bruckmann nickt. »Dr. Fibig hatte einen Unfall. Offensichtlich war er nicht ganz nüchtern. Die Polizei hat ihn unter Druck gesetzt. Ich nehme an, daß er künftig als Vertrauensmann für sie arbeiten wird – für die Politische Polizei.«
»Dr. Fibig – aber das ist doch ausgeschlossen.«
»In dieser Zeit ist nichts mehr ausgeschlossen«, entgegnet die rundliche Frau mit der Brille. Ihr Gesicht ist gerötet, als schäme sie sich. »Bitte glauben Sie mir«, sagt sie »und sagen Sie Ihrem Mann, daß er mehr als vorsichtig sein soll.« Sie nickt der Frau des Rechtsanwalts zu. »Soweit sind wir schon – auch in Vierzehnheiligen.«
Die beiden Frauen verabschieden sich rasch.
»Was war denn, Mutti?« fragt Adele.
»Ach, gar nichts –«, erwidert die Mutter. Achtes Gebot, denkt sie bitter, du sollst nicht lügen, aber auch die frömmsten Eltern müssen in dieser Zeit vor ihren noch so gut geratenen Kindern auf der Hut sein: Kindermund zerstört politischen Leumund. »Nein, wirklich nichts Besonderes«, behauptet sie.
»Wer war denn die Frau?«
»Eine Bekannte. Und sei nicht so schrecklich neugierig, Kind.«
Rechtsanwalt Wolf Hartwig ißt mittags zu Hause. Eine knappe Stunde, mehr Zeit hat er nicht. »Hast du meinen Koffer packen lassen, Marie-Luise?« fragt er zwischen Suppe und Hauptgang.
»Das habe ich. Aber ich möchte dich bitten, nicht nach Vierzehnheiligen zu fahren, sondern vielleicht in ein Sanatorium.«
»Warum denn das?« fragt er verwundert.
»Erkläre ich dir später, Wolf«, erwidert sie mit einem Seitenblick auf die kleine Adele.
Am gleichen Tag teilt Rechtsanwalt Wolf Hartwig den Veranstaltern mit, daß ihm bedauerlicherweise sein Gesundheitszustand nicht erlaube, an den Exerzitien teilzunehmen, da er auf dringenden ärztlichen Rat in dieser Zeit ein Sanatorium aufsuchen müsse.
Sie hatten lange aufeinander warten müssen, der erfahrene Mann und das unberührte Mädchen. Ihre Sehnsucht war zu einem übermächtigen Strom angewachsen, der, in einen Stausee der Vernunft mündend, nunmehr alle Dämme brechen mußte; aber die Katastrophe bleibt aus, weil Hans Faber
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