Heldensabbat
Spaliers am Grünen Markt steht, erkennt Schüler seiner Klasse. Überraschend viele. Ein paar nicken ihm grüßend zu. Das Gesicht des Assessors ist weich und bewegt. Für zwei Stunden kann er in eine andere Welt flüchten, in der es keine Trommeln, keine Fanfaren, keine Blutfahne und nicht die heisere Stimme des Kreisleiters gibt. Und mit ihm eine ganze Stadt, die bereits die Furie Krieg wittert und fürchtet. Im Gegensatz zu 1914 fehlt den meisten Deutschen jede Kriegsbegeisterung. Nach knapp fünfundzwanzig Jahren ist der Erste Weltkrieg noch eine zu schmerzhafte Erinnerung. Der Führer ist gezwungen, seine Volksgenossen mit langsamen, verhohlenen Schritten an die neue Katastrophe heranzuführen: In der braunen Propaganda werden Kriegsvorbereitungen zu Friedensbeschwörungen. Die Mobilmachung in Wellen tarnt sich als Reservistenschulung und der Aufmarsch an der polnischen Grenze als Sommerübung.
Nacht für Nacht finden dort Schießereien statt, wobei nicht immer klar ist, wer damit beginnt. Aus möglicherweise sechstausend deutschen Toten und Verletzten macht Goebbels sechzigtausend Opfer. Jetzt ruft auch Frankreich Reservisten zu den Waffen. In Großbritannien wird die allgemeine Wehrpflicht eingeführt.
Kriege hat Mainbach viele erlebt und überstanden. Dreizehnmal wurde das fränkische Kleinod während des Dreißigjährigen Krieges erobert und konnte sich doch das schöne Antlitz erhalten. Sechshundert Hexen wurden hier auf Geheiß des Aberglaubens verbrannt, unter ihnen vier Bürgermeister hintereinander. Und doch ist das fränkische Rom mit den Abgründen des Aberglaubens fertig geworden. Immer hat das Netz der Kunigunda gehalten. Aber wird es, kann es auch diesmal halten?
Nie steigen Gebete inbrünstiger zum Himmel als an diesem Fronleichnamstag 1939, von den Menschen, die die Straßen säumen, von Gläubigen, die im Zuge schreiten. Zwischen den Frommen stehen Spitzel, notieren Namen. Einzelne Behörden haben die Schwächlinge abgestellt, um die Mutigen zu belauern, die an der Prozession teilnehmen oder an den Straßenrändern dicht geschart Spalier bilden.
Die Prozession stockt. Der Erzbischof hat einen der im Freien errichteten Altäre erreicht. Die Gebete und Gesänge brechen ab.
Die Ordner heben die Hand. Die jungen Menschen schreiten weiter. Eine schwere Heiligenfigur wird vorbeigetragen.
»Und vergib uns unsere Schuld«, betet in diesem Moment die christliche Jugend, »wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.«
Dann werden die Stimmen hart und tief. Die Männer ziehen vorbei: Beamte, Arbeiter, Angestellte, Bauern. Viele tragen Orden aus dem Ersten Weltkrieg auf dem dunklen Anzug. Der Zug nimmt kein Ende. Es werden mehr und mehr. An der Martinskirche schellen silbrig die Klingeln der Ministranten vor dem Traghimmel. In der ersten Reihe der katholischen Männer Rechtsanwalt Dr. Wolf Hartwig; hinter ihm, im nächsten Glied, der Arzt Dr. Fibig. Am Straßenrand Postinspektor Reblein, der sich beider Namen einprägt. Dann kommt der Erzbischof in Sicht, gemessen, würdig nähert er sich dem Altar.
Drexler, der Milchmann, ließ sich bei Schießübungen seines SA-Sturmes vertreten, um unter Mainbachs frommer Bevölkerung Zielübungen zu veranstalten. So viele Namen kann er sich nicht merken; ab und zu holt er verstohlen einen Zettel aus der Tasche und notiert Teilnehmer des frommen Zuges. Mit steigendem Zorn registriert Drexler, daß die Kirche fast so viele Menschen auf die Beine bringt wie die Partei. Während die Gläubigen jetzt das Knie beugen, wird sein Gesicht so weiß wie das Produkt, das er unter der Woche, mit seinem Handwagen von Haus zu Haus ziehend, verkauft. Jugenderinnerungen überfallen ihn. Er hat das Gefühl, plötzlich allein zu stehen, als er auf die goldene, edelsteinbesetzte Monstranz, auf der sich das Licht bricht, starrt. Das allgegenwärtige Auge Gottes, hat Drexler vor langer Zeit gelernt, und auf einmal kommt er sich wie ein Aussätziger vor.
Seine Erinnerung rast zurück, überspringt vierzig Jahre. Er sieht sich als Zehnjährigen am Altar, hat eine Kerze in der Hand, hebt seinen Blick zum goldenen Kreuz, zu den Blumen. Sein Herz schlägt heftig, er singt. Und er ist im Strom der Geborgenheit, die er viel später an die Bewegung verkauft.
Der Baldachin kommt näher. Die Hände Drexlers flattern, die Kniekehlen zittern, die Augen bleiben starr. Der Haß schlägt in Entsetzen um. Der Zettel fällt zu Boden, der Bleistift hinterher. Der SA-Sturmführer merkt nicht einmal,
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