Heldenstellung
Jessica, nur an Sinas Lippen. Und an ihre Augen. Und an ihr Lachen. Ich hole die DVD aus dem Player, renne die Treppe herunter und greife mir irgendeine Jacke von der Garderobe.
Draußen regnet es in Strömen. Es ist einer von diesen warmen, sommerlichen Bindfadenregen. Durch die Pfützen renne ich Sina hinterher. Sie läuft den Bürgersteig entlang, als wäre das hier ein Wettrennen. Vielleicht ist es das auch. Aber ich bin besser gedopt.
Ohne zu zögern, greife ich sie am Arm. Sina dreht sich um. Ihre Augen funkeln zornig, dennoch sind sie nass. Wahrscheinlich vom Regen.
»Es tut mir leid«, sage ich, nicht, weil mir nichts Besseres einfällt, sondern weil es so ist. »Es tut mir leid, dass ich dich belogen habe. Es tut mir leid, dass ich deinen Vater angefahren und das Curry nicht vertragen habe. Und es tut mir leid, dass ich Unternehmensberater bin.«
Sina reißt sich los. »Weißt du was? Vergiss es. Ich habe gedacht, hinter dieser bescheuerten Yuppiefassade steckt ein guter Mensch. Ich habe mich geirrt. Das kommt vor.« Sie dreht sich um und will erneut weglaufen, aber ich halte sie fest.
»Saudumm, das alles, ich weiß«, sage ich. »Aber ich wollte mich noch bei dir bedanken. Dass du mir so super beim Yoga hilfst – und dass du mir das Leben gerettet hast.« Sie sieht mich ungläubig an und schüttelt den Kopf. Ich brabbele weiter. »Ich meine jetzt nicht nur gerade eben mit diesem Notfallkit, sondern auch mit allem anderen, mit diesen komischen Filzhosen und diesem alten Inder und diesem Yoga, das mich so ruhig macht. Ich habe das nur alles nicht gesehen. Aber jetzt sehe ich es ganz klar.« Plötzlich blitzt es hell auf, als wollte mir der liebe Gott recht geben. Kurz darauf bricht der Donner los.
»Wir sollten uns irgendwo unterstellen«, schlage ich vor. »Vielleicht besser nicht bei mir zuhause.«
Sina nickt. »Am besten, wir gehen zu mir. Ich habe dem Notarzt ja eh versprochen, dass ich dich beobachte.«
Im Bus erzähle ich Sina, was ich mit ihrer Anregung zum Ausstieg aus dem Hamsterrad gemacht habe, und von der Präsentation im Fitness-Studio.
»Das heißt, du bist eine Art guter Unternehmensberater, der die Menschen besser machen will.«
»Wenn du so willst . . .«
»So was!«, sagt sie, ihre Augen strahlen. »Ich habe ja gleich gewusst, dass du kein schlechter Mensch bist.«
Als wir aus dem Bus aussteigen, kommen wir am Hotel Deutscher Hof vorbei. Ich will Sina einladen, dort spontan mit mir einzuchecken und die Zeche zu prellen, aber sie meint, das sei schlecht fürs Karma. Als sie die Haustür des mehrstöckigen Altbaus, in dem sie wohnt, aufschließt, flüstert sie: »Wir müssen ganz leise sein, wir sind nicht allein.«
Ihr Zimmer erinnert mich an meine erste WG: Eine Wand ist orange gestrichen, an die Decke sind Wolken gemalt, die Tische sind klein und indisch, auf dem Boden liegen Sitzkissen und -säcke. Wir schälen uns aus den nassen Sachen, Sina holt von irgendwoher eine Yogahose und ein Batikshirt, diesmal in Grün. Dazu reicht sie mir eine der baumwollenen Yogadecken. »Ich habe leider keine Klamotten in deiner Größe«, sagt sie. Egal. Zum ersten Mal bin ich froh, in Yoga-Hotpants zu schlüpfen.
Ingwertee wärmt uns von innen. Dann kehrt wieder diese verhängnisvolle Stille ein. Wenn Error dabei war, fiel es mir immer leicht, mit Sina zu plaudern, aber jetzt steht irgendwas zwischen uns. Wahrscheinlich der Kuss. Wo kam der eigentlich her?
»Wie hat sich Hari diese Yogamesse denn vorgestellt?«, frage ich, um die peinliche Stille zu brechen.
Sina lächelt, verlässt kurz das Zimmer und kommt mit ihrem kleinen Notizbüchlein wieder zurück. Sie erzählt, was auf der Messe alles angeboten werden soll: Schnupperunterricht von Yogis aller Stilrichtungen, krankheitsspezifische Yoga-Beratung, Workshops zum Mantrasingen und zur Yogaphilosophie, Verkauf von Hilfsmitteln, Fachliteratur, Yogaklamotten und Malas. Die Zeit vergeht wie im Flug. Bis spät in die Nacht spinnen wir ein Konzept aus. Sina rechnet mit etwa 500 bis 1000 Besuchern.
»Dafür ist unser Studio zu klein«, sagt sie.
»Vielleicht kann ich da etwas machen.«
Sie sieht mich überrascht an. »Ich weiß nicht, ob ich mir deinen Stundensatz leisten kann.«
»Ich schulde dir eh noch etwas«, erinnere ich sie.
»Hätte nie gedacht, dass Unternehmensberater auch mal so etwas Gutes tun«, meint sie.
»Ich bin ja auch kein klassischer Unternehmensberater.«
Sie geht nicht weiter auf meine Bemerkung ein,
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