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Heldenstellung

Heldenstellung

Titel: Heldenstellung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Glubrecht
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führt zu Wut, Wut führt zu Hass, Hass führt zu unsäglichem Leid.« Sina sieht mich überrascht an.
    »Das ist ehrlich gesagt ein bisschen verstörend. Hat das ein Yogi gesagt?«
    »Fast«, entgegne ich stolz. »Das stammt von Meister Yoda.«
    Nach diesem etwas aufwühlenden Thema üben wir als Erstes harmonisierende Drehhaltungen. Die meisten kriege ich ganz gut hin. Trotzdem nutzt Sina jede Gelegenheit, mich zu korrigieren, streicht mir unter das Kinn, wenn ich den Kopf heben soll, legt ihre Hand auf meinen Rücken, um die Wirbelsäule zu strecken, und greift immer wieder in meine Lendengegend, wenn meine Hüfte aus dem Lot gekommen ist. »Das ist jetzt das Gegenprogramm zu deiner Schreibtischarbeit«, erklärt Sina. »Die Drehhaltungen wirken am besten gegen Rückenbeschwerden aller Art, weil sie deine Wirbel so richtig aufdrehen können.«
    Seltsam, sobald wir zusammen Yoga machen, ist alles ganz harmonisch. »Eines würde ich gern mit dir ausprobieren«, sagt Sina nun und sieht mich an wie ein Versuchskaninchen. »Du bist in der ersten Stunde einmal umgefallen, und es wäre zu blöd, wenn das in meiner Prüfungsstunde passiert.« Ich nicke. Wenn ich mich recht entsinne, bin ich im Kopfstand auf Jessica gefallen. Der Gedanke an sie hat seltsamerweise überhaupt keine Wirkung mehr auf mich.
    »Parivritta Parsvakonasana«, sagt Sina, »die gedrehte Winkelstreckung. Utthita Parshvakonasana kennst du eigentlich schon.«
    Das würde ich jetzt nicht so unterschreiben, aber ich will ja kein Spielverderber sein. Sina zeigt mir, wie ich mich schulterbreit hinstelle. Dann breite ich die Arme aus und knicke mit dem rechen Knie ein. Als Nächstes soll ich mich nach links drehen und versuchen, die linke Hand neben dem eingeknickten rechten Knie auf dem Boden abzusetzen. Eine ganz schön gewagte Angelegenheit. Aber was tue ich nicht alles für Sina. Langsam drehe ich mich über Kreuz. Mein rechter Oberschenkelmuskel zittert vor Anstrengung. Als ich die Hand auf den Boden setze, drohe ich kurz das Gleichgewicht zu verlieren. Und kippe ein wenig nach hinten. Aber da ist Sina schon hinter mir und hält mich fest. »Lass dir Zeit«, sagt sie ruhig und nimmt meine andere Hand. Es ist wie eine Umarmung. Langsam führt sie meinen Arm nach oben. »Sehr gut«, schnurrt sie, und ich spüre ihren Atem an meinem Hals. Sie führt mich in die Haltung. Aber seltsamerweise wirkt sie auf mich eher aufwühlend als harmonisierend.
    Dann üben wir die Dreieckshaltung Trikonasana, die ich noch von dem Recruiting-Wochenende kenne. Diesmal versuche ich mich nur auf die Haltung zu konzentrieren. Wieder muss Sina mich zurechtrücken. Sie dreht meine Schultern zur Seite, rückt meine Hüfte gerade und stellt meine Fußaußenkante parallel zum Mattenrand. Als sie damit fertig ist, fühlt sich mein ganzer Körper ruhig und warm an. Khamroff, die Präsentation, mein Vater, selbst der Yoga-Event: Alles verschwindet plötzlich aus meinem Kopf. Zum ersten Mal seit Wochen verspüre ich absolute Ruhe. Mein Atem fließt ruhig und gleichmäßig, ich könnte ewig in der Stellung bleiben.
    »Frederick«, höre ich Sinas Stimme. »Bist du noch da?« Ich zwinkere mich zurück in die Gegenwart.
    »Bin gerade irgendwie abgetaucht«, sage ich. Sina schaut mich an und lächelt verständnisvoll, während ich versuche, nach ihren Anweisungen die Heldenstellung einzunehmen. Sie erinnert tatsächlich ein wenig an Supermans Pose, mit der er in den Filmen durch die Wolken fliegt. Genauso fühle ich mich gerade.
    Nach der Yogastunde sollte ich mit Sina eigentlich die Ergebnisse meiner Recherche besprechen, aber ich bin einfach viel zu entspannt, um zu arbeiten. Draußen ist ein warmer Herbsttag, es ist noch hell, und ich war heute noch gar nicht an der frischen Luft. Genau genommen war ich schon seit Tagen nicht mehr an der frischen Luft.
    »Wollen wir ein bisschen rausgehen?«, schlage ich Sina vor. Die nickt.
    »Wohin willst du denn?«, fragt sie. Am liebsten würde ich mit Sina an einen besonderen Ort gehen, an dem mir die Stille der Yogastunde noch erhalten bleibt. Plötzlich weiß ich, wo wir diesen Ort finden.
    Wenig später halte ich auf dem Parkplatz vor dem Kastanienfriedhof.
    »Bist du dir sicher?«, fragt Sina.
    »Bisher hast du ja nur meinen Vater kennengelernt. Meine Mutter kann ich dir ja nicht vorstellen, aber irgendwie fände ich es schön, wenn du mitkommst.« Sina atmet tief ein und aus.
    »Also gut«, sagt sie.
    Ich öffne das eiserne Friedhofstor.

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