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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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Fraßspur einer riesigen Raupe, die sich in ihrem Hunger nicht einmal von Dornen hatte abschrecken lassen. Insofern war es schwer für Namakan nachzuvollziehen, wie lang die Strecke war, die sie zu bewältigen hatten. In ihm rang die Vorfreude auf seine Begegnung mit den Elfen mit einem starken Gefühl der Beklemmung. Ich bin nur froh, dass die Ranken, die die Decke und die Wände bilden, hier hübsch stillhalten. Man bekommt wegen all der Dornen, die aus ihnen hervorragen, auch so schon das Gefühl, in den Schlund eines Neunauges hineinzumarschieren. Falls die Hecke es sich anders überlegt und wir doch keine willkommenen Gäste sind, kann sie uns zerraspeln wie Käse auf einer Reibe.
    Gerade als das Leuchten von Ammornas Stab verglomm, machte der Gang eine letzte Biegung und ihnen schien blasses Tageslicht entgegen. Vor ihnen öffnete sich ein Tal, zu beiden Seiten von steilen Felswänden begrenzt, die in einem spitzen Winkel aufeinander zuliefen, ohne sich jedoch ganz zu berühren. Wie Korn, das in einer Mühle in den Trichter fiel, schlugen sie die einzige Richtung ein, die sich ihnen bot – hin zu den Bauten, von denen Dalarr erzählt hatte.
    Niemand sagte ein Wort, doch Namakan war sicher, dass sie alle das Gleiche dachten. Nichts ist so, wie er es gesagt hat.
    In Namakans Vorstellung war das Elfenreich ein grünender, sonnendurchfluteter Ort gewesen. Nun biss ihm eine trockene Kälte ins Gesicht, und das Gras unter seinen Stiefeln war von klirrendem Frost verdorrt. Die Bauwerke, die sich kühn in die Lüfte hätten schwingen sollen, lagen als verrottete Trümmer da, von einem wütenden Sturm kurz und klein geschlagen. Die Kanäle waren von einer dicken Schicht aus klarem Eis überzogen, die schillernden Fische darin eingeschlossen wie in Glas. Von den nackten Ästen der Bäume und den verwitterten Geländern der Brücken hingen Eiszapfen. Vor Namakans Mund gefror ihm der Atem zu flirrenden Kristallen, die in einem verhaltenen Knistern zu Boden sanken. Es ist, als hätten die Elfen den Winter selbst gegen sich aufgebracht.
    Schweigend zogen die Wanderer durch diese trostlosen Ruinen, als befürchtete jeder von ihnen, ein unbedachtes Wort könnte dieses ganze tote Reich von einem Wimpernschlag zum nächsten zerspringen lassen. Sie folgten dem gewundenen Pfad, der von Standbildern gesäumt war und den Dalarr schon einmal beschritten hatte, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Namakan vermutete, dass sie sich dennoch stumm die gleichen Fragen stellten. Was war hier nur geschehen? Was hatte dazu geführt, dass die einst so prächtigen Gewänder der Statuen zerschlissen waren und in Fetzen herabhingen? Welche Macht hatte hier dem Holz befohlen, verkrüppelte Triebe auszubilden, die den elfischen Helden aus Brust und Gesicht wuchsen wie knollige Pestgeschwüre?
    Ein lautes Knacken durchbrach die Stille.
    Alle blieben wie angewurzelt stehen und schauten sich fragend an – alle bis auf Kjell.
    »Ich glaube, das war ich«, sagte der Graf ohne Land leise und hob seinen Fuß an. Darunter kam eine Handvoll dünner Knochen zum Vorschein, die unter seiner Stiefelsohle zersplittert waren. »Da ist ein Schnabel dabei«, stellte Kjell fest. »Jetzt wissen wir, was aus den Vögeln geworden ist.«
    »Der zertretene Schädel eines zarten Vogels.« Ammorna raffte die Robe und beugte sich über die zermalmten Überreste. »Das ist kein gutes Omen.«
    »Was du nicht sagst …« Dalarr verzog den Mund. »Wie lange muss man Kroka in den Rabenhintern kriechen, um eine solche Weisheit zu erlangen?« Er drehte sich einmal um die eigene Achse, langsam, die Schultern gespannt, die Hände an den Griffen seiner Schwerter, als rechnete er damit, dass irgendwo in der tristen Szenerie um ihn herum ein zum Sprung bereites Raubtier auf der Lauer lag. »Man muss beileibe nicht in einem Kloster studiert haben, und man braucht schon rein gar nichts von albernen Omen zu verstehen, um zu bemerken, dass hier mächtig etwas aus den Fugen geraten ist.«
    Nun, da der Bann des erschütterten Schweigens offenbar endgültig gebrochen war, fragte Namakan: »Warum ist hier niemand mehr? Wo sind die Elfen hin?«
    »Wenn sie angegriffen worden sind, wohin würden sie sich dann zu ihrem letzten Gefecht zurückziehen?« Morritbi schlang die Arme um ihren Leib und schüttelte sich. An einem Ort wie diesem reichte wohl sogar die unbändige Hitze in ihr nicht aus, um sie vor einem Frösteln zu bewahren. »Ich meine, sie müssen doch angegriffen worden sein,

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