Heldenwinter
Menschen gilt, muss vielleicht nicht für alle Geschöpfe so sein. Wie sonst sollte ich mir erklären, was nun geschah?
Sus Atschils Leib zerfiel vor uns, wohl weil die Zeit, die so lange ihres ureigensten Anrechts beraubt worden war, in aller Eile nachholte, was sie ohne die Zauber der Elfe schon längst angerichtet hätte. Es klingt schaurig, doch das war es nicht, denn aus dem Staub und den Knochen stob ein gleißender Dunst hervor. In trägen Wirbeln verdichtete er sich zu einer Gestalt, und vor uns erstand Sus Atschil auf, in Nebel und Licht. Frei, an nichts in dieser Welt mehr gebunden.
Die Erscheinung währte nur kurz. Ein Windstoß nahm sie mit sich, hin zum Toschoschik Sibal, den Fallenden Nebelwassern, von denen die Elfen glauben, sie wären der Ursprung ihrer Existenz. Doch ihr könnt euch bald selbst ein Urteil darüber bilden, was ihr auf die Geschichten gebt, die sich die Kinder des Dunstes über ihre Herkunft erzählen.
Der Rest ist schnell berichtet. Galt und Nimarisawi waren fortan unzertrennlich. Ob sie nun durch die Umstände von Sus Atschils Erlösung verbunden waren oder weil sie wechselseitig der unvergleichlichen Anziehung des Fremden und Unbekannten erlagen? Wer weiß das schon … Fragt sie selbst, wenn ihr euch traut. Ich weiß nur, dass sie ihm einen neuen Namen verlieh: Tschun Kas Rikkach Kab, die Stimme der schmerzlich süßen Wahrheit.
Der Klang dieser neuen Stimme muss indes Anreiz genug für sie gewesen sein, unserer Bitte, wegen der wir sie eigentlich aufgesucht hatten, nachzukommen. Sie willigte ein, einen ganz besonderen Zauber für uns zu wirken. Mehr noch: Sie begleitete uns sogar hinaus in die Welt jenseits ihrer Heimstatt, um zu sehen, welche Absichten wir mit ihrer großzügigen Gabe verfolgten. Ihr Wagemut wurde belohnt. Sie erlebte binnen weniger Wochen mehr Aufregendes als in all der unendlich langen Zeit, die sie in ihrem langweiligen Zuhause damit zubrachte, Blumenkränze zu flechten und hilflosen Gäulen einen gnädigen Tod zu verwehren.
Ach, ich denke, am Ende war es ein bisschen zu viel Aufregung für das alte Spitzohr. Warum sonst hätte sie Galt danach dazu drängen sollen, mit ihr zurück zu den bunten Vögeln und schillernden Fischen zu gehen?
Nun ja, das, was für uns im Augenblick zählt, ist, dass sie mir zum Abschied verraten hat, wie man in ihrem Reich Einlass findet, auch ohne dass man sich mit Skaldatklingen den Weg freihacken muss. Ich stoße ungern so laut in mein eigenes Horn, aber vor euch sitzt ein Vertreter einer erlesenen Gemeinschaft, der weniger Menschen angehören, als man Finger an den Händen hat: ein Atschil Bekischak, ein ewiger Freund der Kinder des Dunstes.
So, denkst du Nebelkrähe da drüben immer noch, ich sei nichts als ein Aufschneider?
Ammorna ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Sie zupfte erst gemächlich ein paar Tannennadeln vom Saum ihrer Robe, ehe sie sagte: »Ob ich dir glaube oder nicht, entscheide ich, sobald wir durch die Dornige Hecke gegangen sind.«
»Was ist die Dornige Hecke?«, fragte Namakan seinen Meister.
»Die Hecke?« Dalarr rieb sich über die Brustplatte seiner Rüstung und schürzte die Lippen. »Belassen wir es doch einfach dabei, dass es diese faltige Vettel noch nicht geschafft hat, dir jede Überraschung zu verderben.«
19
Der kluge König weiß in seinen bedeutsamsten Entscheidungen sein Volk stets hinter sich.
Der klügste König wendet sich von Zeit zu Zeit um, um zu sehen, wer es ist, der da hinter ihm steht.
Aus den Geboten weiser Herrschaft
Das ist keine Hecke. Das ist eine lebendige Wand.
Namakan betrachtete das gewaltige Hindernis, das vor ihnen lag. Auf einer freien Schneefläche türmte sich ein dichtes Gestrüpp gewiss mehr als hundert Schritte in den Himmel auf. Es zog sich linker wie rechter Hand bis zum Horizont dahin, gleich einem unüberwindlich scheinenden Wall, der die Welt in zwei Hälften teilte. Die Hecke trug kein Laub an ihren armdicken, ineinander gewundenen Zweigen, doch dafür Abertausende der Dornen, denen sie ihren Beinamen verdankte. Lang und spitz wie Dolche, und unübersehbar aus dem dunklen, harten Holz, aus dem auch die Pfeilspitze gefertigt war, die Namakan in der ersten Laube gefunden hatte. Die Dornen allein hätten die Hecke bereits zu einem beunruhigenden Anblick gemacht, doch es gab noch etwas, das Namakan ein flaues Gefühl im Magen bescherte: Die Ranken der Hecke bewegten sich. Es war den Untrennbaren sei Dank kein wildes Peitschen, denn dann hätte
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