Heldenwinter
nicht, dass dieses Lächeln von einem Blick begleitet war, den tiefe Trauer tränkte.
»Sag mir, was es ist«, verlangte Galt. Es war keine unverschämt hinausgerufene Forderung. Es war ein betroffenes Flüstern, das seine Wirkung nicht verfehlte.
»Wie kann ich es zeigen, ohne dass du es siehst?« Nimarisawi bedeutete uns, ihr zu folgen, und so verließen wir die Halle der Zusammenkunft.
Sie zeigte uns die Quelle ihres Leids: Auf einer Wiese, wie sie sogar auf den Almen nicht schöner grünt, stand ein Schimmel. Nimarisawi mag dem Verständnis eines Tristborners nach keine richtige Königin sein, aber dieses Pferd wäre einer richtigen Königin mehr als würdig gewesen. Schließt die Augen und denkt an das schönste Pferd, das ihr euch vorstellen könnt, und ihr nähert euch dieser edlen Kreatur, die wir vor uns sahen, womöglich ein wenig an. Ein anmutig geschwungener Hals. Ein kurzer, kräftiger Rücken. Die Kruppe angenehm flach, dahinter ein stolz erhobener Schweif. Ein kleines, fast vornehmes Maul, darüber große Nüstern und eine vorgewölbte Stirn, die von großer Gelehrsamkeit zeugte. Es war ein Tier, für das so manch leidenschaftlicher Reiter so manch liederliches Verbrechen begangen hätte, um es in seinen Besitz zu bringen.
Nimarisawi strich dem Schimmel durch die Mähne. »Warum frisst Sus Atschil nicht mehr? Warum trinkt er nicht mehr? Warum ist ihm nicht mehr danach, dass ich ihn reite?«
Sus Atschil, der Wolkenfreund, gab ein verhaltenes Schnauben von sich.
»Denn liebt er mich nicht noch immer so wie an dem Tag, als er als Fohlen zu mir kam?«, beteuerte Nimarisawi.
Und wieder war es Galt, der durch, hinter und zwischen die Dinge schaute. Er betrachtete den Schimmel eine Weile schweigend. Seine Lippen bebten, wie wenn er Zeuge eines großen Unrechts würde. Dann sah er zu der Elfe. »Du hast dieses Pferd mit Zaubern belegt.«
»Wie konnte ich das nicht?«, entgegnete Nimarisawi. »Wie konnte ich das nicht, wo mein geliebtes Wesen doch so sehr litt?«
»Heb sie auf. Heb sie alle auf.« Die Spur eines Flehens lag in Galts Stimme. »Lass ihn endlich gehen.«
»Wie kann ich das?« Nimarisawi war den Tränen nahe, und allen um sie herum ging es nicht anders. Nicht einmal mir oder Waldur. »Wie lasse ich ihn gehen, ohne dass mir das Herz zerspringt? Wie kann ich das?«
Galt verstand den Kummer der Elfe, und er verstand auch, wie Abhilfe zu schaffen war. Er bat Waldur um Bogen und Köcher. Waldur, in einem letzten Akt des Mitgefühls für eine andere Kreatur, dessen Zeuge ich werden sollte, gab der Bitte unseres Freundes nach. Ich begann zu ahnen, was Galt vorhatte.
»Ein eitler Käfig ist die Welt«, sang er und nahm einen weißbefiederten Pfeil aus dem Köcher. »Das Fleisch, das uns gefangen hält.« Die Bogensehne glitt in die Nocke. »Gib mir den Schlüssel in die Hand.« Galt spannte den Bogen. »Und hol mich in das fernste Land.« Der Pfeil schnellte von der Sehne und bohrte sich tief in die Brust des Schimmels.
Nimarisawi schluchzte auf, ein einziges Mal nur, doch das reichte, um die Wangen der anderen Kinder des Dunstes mit Tränen zu benetzen.
Langsam, ganz langsam sank der Schimmel auf die Seite nieder. Er legte den Kopf ins Gras und tat seinen letzten Atemzug. Als seine Brust sich senkte und nicht wieder hob, fielen alle Zauber von ihm ab, mit denen Nimarisawi ihn belegt hatte. Ich weiß nicht, wie viele Sommer Sus Atschil gesehen hatte, doch es müssen viele gewesen sein. Zu viele. Sein Fell – eben noch seidig und glänzend – war stumpf und sein Rücken von kahlen Stellen übersät. In seinem geöffneten Maul waren keine Zähne mehr, und seine Zunge ähnelte einem grauen, trockenen Lappen. Das Alter hatte ihm Fesseln und Knie anschwellen lassen wie volle Weinschläuche. Jede Rippe stach wie ein Felsgrat aus der Haut hervor.
Wir alle schwiegen, ins Mark erschüttert vom Anblick dieser aufgehobenen Täuschung, dieses aus inniger Liebe geborenen Elends, das nun endlich vorüber war.
Die Verse, die Galt gesungen hatte, stammten übrigens nicht von ihm. Dieser schlaue Fuchs zitierte lediglich den Stummen Barden. Das habe ich Nimarisawi nie offenbart. Nicht aus bösem Willen. Nur, weil ich den leidvollen Augenblick, als etwas so Schönes wie Sus Atschil dahinging, in ihrer Erinnerung nicht noch leidvoller machen wollte.
Doch ein Wunder erwartete uns noch. Namakan weiß, woran ich glaube. An die Stille Leere, die Ursprung und Ende eines jeden von uns ist. Aber was für uns
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