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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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er die Stimme wieder hob, war sie voll fordernder Kraft. »Warum begleitest du mich nicht an seiner Stelle, Nimarisawi? Wir teilen das gleiche Schicksal. Unser beider Heim ist verwüstet, unsere Liebsten sind tot, und uns ist nur ein Kind geblieben, dem wir den rechten Weg durch die Welt zeigen müssen. Komm mit uns. Zeig Waldur, dass er dich nicht gebrochen hat und dass er dich niemals brechen kann.«
    Ein Ruck ging durch Nimarisawis gesamten Leib. Sie reckte den Hals und blickte verständnislos zu Dalarr herab. »Wieso teilen wir ein Schicksal? Wieso ist mein Liebster tot? Liegt er da nicht? Atmet er nicht? Schlägt nicht sein Herz? Wie könnte er da tot sein? Lebt er nicht?«
    »Nimarisawi …« Dalarr versagte die Stimme. »Das ist kein Leben.«
    »Was redest du da? Will ich von dir hören, dass mein Liebster tot ist?« Sie löste sich von Dalarr, der sie festzuhalten versuchte, doch sie zog nun anstelle seines Arms Galts Bahre als Stütze vor. »Doch bist du nicht ein Atschil Bekischak? Und würde ich dich nicht grämen, wenn ich das Angebot, dich zu begleiten, nicht zumindest bedenken würde?«
    »Nan, du würdest nicht wirklich gehen?« Es war das erste Mal, dass Namakan Furcht in Tschumilals Stimme hörte.
    Ich kenne diese Furcht. Ich habe sie auch gefühlt. Es ist die Angst vor der Fremde. Die Angst, sich in einer großen Welt zu verlieren, wenn man viel zu lange in einer kleinen Welt gelebt hat. Aber mir geht es dennoch besser als ihr. Meine kleine Welt war schön, und ihre ist ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt.
    »Was bedrängt ihr mich so?«, tadelte die alte Elfe sowohl ihre Tochter als auch ihren Gast. »Wollt ihr mich nicht noch einmal fragen, wenn der Morgen jung ist?« Sie zeigte mit einem wie von Gicht gekrümmten Finger auf Morritbi. »Und du, Flammenhaar, was hältst du davon, mir meinen Stock zu suchen, damit ich dir deine Frechheiten von eben verzeihe?«
    Die Überraschung lag für Namakan nicht darin, dass die Hexe gehorchte. Sie bestand vielmehr darin, dass sie es schweigend tat, und Namakan zweifelte daran, ob die alte Elfe begriff, welch erstaunliche Leistung sie damit vollbracht hatte.
    Die Räume, in denen die Gäste Nimarisawis Bedenkzeit verbringen sollten, lagen in einem Flügel der Halle der Zusammenkunft, der die Fallenden Nebelwasser überblickte.
    Der Name passt nicht mehr. Namakan stand so dicht vor dem Fenster, dass sein Atem auf dem Material beschlug, aus dem die Scheibe beschaffen war – ein harter, durchsichtiger Stoff mit einem Gelbstich wie von geronnenem Baumharz. Die Wasser fallen nicht mehr, und es gibt auch keinen Nebel. Namakan fühlte sich von den gefrorenen Wassermassen, die mitten in ihrem Sturz erstarrt schienen, an die kalbenden Gletscher an den höchsten Berghängen seiner Heimat erinnert. Kann es sein, dass die Zeit hier stillsteht? Ist es das? Wärmt der Fluss der Zeit die Welt, und wird sie mit einem Mal kalt und leer, wenn sich dieser Fluss irgendwie staut? Nein, das ist dummes Zeug. Ich brauche mir nur den Himmel anzusehen. Er wird dunkler, weil die Nacht näher rückt. Und solange man den Tag noch von der Nacht und die Nacht vom Morgen unterscheiden kann, kann auch die Zeit nicht stillstehen. Sie hält für niemanden an. Nicht einmal für die, von denen es heißt, sie seien unsterblich.
    »Sie wird nicht mitkommen«, sagte Morritbi. Sie saß auf einer der Bänke, die in dieser Aussichtskammer aus dem Boden wuchsen. Sie waren von einer weichen Rinde überzogen, die glücklicherweise kaum morsch und verhältnismäßig trocken war. »Sie wird hierbleiben wollen, und vielleicht ist das auch ganz gut so.«
    »Was sollte daran gut sein?« Dalarr hatte Blotuwakar quer über die Knie gelegt und säuberte die Klinge des Langschwerts mit dem Saum seines Pelzmantels von den klebrigen Holzsplittern, die seine Hiebe gegen die Wächterstatuen auf dem Metall hinterlassen hatten. »Sie muss hier fort, ehe sie endgültig den Verstand verliert.«
    »Aber sie ist alt und sie geht am Stock.« Morritbi warf verzweifelt die Hände in die Höhe. »Bis wir mit ihr im Gepäck in Silvretsodra sind, wachsen uns doch allen graue Haare.«
    »Du übertreibst«, erwiderte Dalarr. »Schau dir unsere Nebelkrähe an. Die geht doch auch am Stock und hält tapfer mit.«
    »Hört, hört.« Ammorna schaute auf. Sie hatte in einer Schale mit Äpfeln, die Tschumilal ihnen gebracht hatte, offenbar nach einem noch nicht vollständig verschrumpelten Stück Obst gewühlt und ihre Suche nun

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