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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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Geschlechts
    »Namakan.« Drängend zischte das Flüstern an seinem Ohr. »Namakan, wach auf.«
    Morritbi? Namakan schlug die Augen auf. Es war stockdunkel, aber er spürte eine weiche Last auf den Hüften. Was ist los? Warum sitzt sie halb auf mir? Will sie mich wieder trösten?
    »Wach auf.«
    »Ich bin wach«, murmelte er.
    Laub raschelte, und das Gewicht wich von ihm. »Was weckst du mich auf?«
    »Er ist fort.«
    »Wer?«
    »Dalarr. Da stimmt etwas nicht. Wir müssen ihn suchen.«
    Namakan stützte sich auf die Ellenbogen und sah dorthin, wo er Morritbis Gesicht vermutete. »Wie kommst du denn darauf?« Hat ihr das Feuer das eingeflüstert? »Hör mal, vielleicht ist er sich nur erleichtern.«
    Morritbi antwortete mit einem leisen Fauchen. »Ja, aber vielleicht auch nicht. Ich will wissen, wo er hin ist.«
    Zögerlich zog sich der Schlaf aus Namakans Geist zurück und erlaubte ihm, klarere Gedanken zu fassen. »Es lohnt sich nur, etwas zu suchen, wenn man ungefähr weiß, wo man es findet. Diese Halle ist riesig. Vom Tal ganz zu schweigen.«
    »Ich will nur sehen, ob er mit der Königin spricht. Ob er ihr zuredet, dass sie mit uns kommt.«
    »Sie ist keine echte Königin.«
    »Das tut doch nichts zur Sache.« Morritbi begann ungeduldig an Namakans Ärmel zu zupfen. »Steh auf. Wir schauen nur in dem großen Saal mit der Knospe nach. Und in der Kammer, in der sein Freund aufgebahrt ist. Den Weg dorthin finde ich schon. Wenn er da nicht ist, lassen wir es sein, ja?«
    »Warum gehst du nicht allein?«, fragte Namakan.
    »Hast du etwa Angst?« Morritbi ächzte. »Wovor? Dass er dir die Ohren langzieht, wenn er uns erwischt?«
    »Nein«, log Namakan. »Ich sehe bloß nicht mal die Hand vor Augen.«
    »Wenn es nur das ist …«
    Namakan hörte erst ein feines Schaben und Knistern, dann etwas, das der leiseste Windhauch hätte sein können. In der Dunkelheit der Schlafkammer flackerte eine schwache Flamme auf. Sie saß auf der Spitze eines schwefelholzdünnen Zweigs, den Morritbi in Händen hielt und der kaum halb so lang wie ihr Zeigefinger war.
    »Besser?« Die Hexe grinste zufrieden.
    Namakan betrachtete das Feuer. Winzigste Funken zerstoben in der Flamme wie blutrote Sternschnuppen. Skaldat … sie hat eine Prise kostbarstes Skaldat auf das Stöckchen gerieben … es muss ihr wirklich eine Menge daran liegen, den Meister zu finden.
    Namakan gab nach, und so huschten sie bald durch das runde Zimmer mit dem Harzfenster und den Bänken. Aus der einen Spalt weit geöffneten Tür, hinter die sich Kjell für seine Verwandlung zurückgezogen hatte, drang Ammornas Schnarchen wie das schwache Grunzen träumender Ferkel.
    Morritbi ging voran und führte Namakan die gewundenen Stufen hinab in einen Gang, in dem die Hexe sich entschlossen nach links wandte. Sie wird wissen, was sie tut, mutmaßte Namakan und versuchte nicht daran zu denken, wie ziellos Morritbis Verhalten in der Zeit nach der Befreiung aus ihrer Gefangenschaft beim Spinnenvolk gewesen war.
    Namakan hatte nicht die geringste Ahnung, ob sie sich tatsächlich dem Knospensaal näherten, als er etwas hörte, das ihn innehalten ließ.
    »Warte!«
    Morritbi drehte sich verwundert zu ihm um. »Hast du doch die Hosen voll? Brauchen wir eine größere Fackel?«
    »Sch«, machte Namakan. »Hörst du das nicht?«
    Morritbi lauschte einen Moment, dann weiteten sich ihre Augen. »Da singt jemand.«
    »Ja. Mein Meister.« Und ich kenne dieses Lied …
    »Es kommt von dort.« Morritbi schlug ein schnelleres Tempo an, als sie auf eine nahe Abzweigung zusteuerte. »Von oben.«
    Je länger sie dem Klang von Dalarrs Stimme folgten, desto deutlicher wurden die Worte. »En bara oskir er var eldar«, verstand Namakan, nachdem sie eine weitere gewundene Treppe hinter sich gelassen hatten. Und dann: »I stena bidum soktu ek, jarta mitt.«
    Er wird es nicht nur einmal singen, wusste Namakan.
    Dalarr sang zum zweiten Mal davon, wie Regen zu Tränen wurde, da gesellte sich zum Flackern der Flammen ein Stück vor ihnen den Gang hinunter ein weiteres Licht. Doch wo das Leuchten der Flamme warm und weich war, war dieses neue Licht kalt und hart, der Glanz einer Wintersonne auf nacktem Eis.
    »Hier!« Morritbi hielt Namakan das brennende Stöckchen unter die Nase. »Spuck drauf!«
    »Was?«
    »Spuck die Flamme aus!«
    »Wieso?«
    »Du weißt nicht, wo wir sind, oder?«
    »Nein«, gestand Namakan.
    Morritbi zeigte mit ihrer freien Hand zu dem kalten Licht. »Dort vorn, um die nächste

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