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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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unser eigener wie der Duft von feinstem Rosenwasser war. Der Gestank eines Todes, der kein echter Tod war, weil ein echter Tod ein Ende hat.
    Nachdem Eisarn uns lallend Glück gewünscht hatte – im Kopf war er wohl schon in Arvids Schatzkammer –, drangen wir in die Grotte vor. Waldur, Galt, Lodaja, Nimarisawi und ich. Fünf Lebende, die sich nur deshalb nicht in tintiger Schwärze durch das Reich der ruhelosen Toten vorantasten mussten, weil die Wände der Gänge hier von Adern eines sonderbaren Gesteins durchzogen waren. Einem Gestein, das in beunruhigenden Farben glühte: eitrigem Gelb, blutigem Rot und leichenblassem Weiß.
    Ich will ehrlich sein. Ich habe in meinem Leben viele Reisen angetreten – lange und kurze, beschwerliche und bequeme. Keine andere jedoch war wie diese, die ich an jenem Tag antrat. Sie führte zu einem Abgrund, der noch tiefer war als die Narbe. Einem Abgrund in mir. Zu der Erkenntnis, dass wir alle in einer Welt leben, in der es keine endgültigen Wahrheiten gibt, weil selbst der Tod sich als Lüge entpuppen kann.
    Wir bahnten uns unseren Weg durch ein schweigendes Meer von Toten. Nimarisawis Zauber schützte uns davor, von ihnen in Stücke gerissen zu werden, doch er bot uns keinerlei Schutz vor den erschütternden Anblicken, den dieses stumme Heer bot. Kriechende Rümpfe ohne Glieder. Auf ewig verwesende Leiber, die für immer aneinander gebunden waren, weil die Spitze des Speers, der sich dem einen durch die Brust gebohrt hatte, dem anderen während ihres ziellosen Schlurfens in den Rücken gefahren war. Gekrümmte Finger, die immerzu über freiliegende Rippen strichen, als spielte der, dem Finger und Rippen gehörten, sich selbst wie ein schauriges Instrument. Verdorrte Zungen, die gierig über das siech leuchtende Gestein leckten, weil der kranke Ungeist, der die Toten antrieb, ihnen vorgaukelte, daran ihren Hunger nach Fleisch stillen zu können.
    Nach einer Weile, in der draußen und droben genauso gut Reiche hätten geboren werden und wieder vergehen können, stießen wir am Grund der Grotte auf das, was vom Plagenvater noch übrig war. Seine Hülle war vertrocknet wie die eines Wurms, den die Sonne versengt hat, aber selbst in diesem Zustand war noch zu erkennen, dass wir vor den Überresten einer durch und durch monströsen Bestie standen. Es war, als hätten sich im Plagenvater alle Kreaturen vereint, deren Anblick Ekel in einem auslöste. Er hatte die dornigen Fühler eines Käfers und die Scheren eines Krebses, aus seinem Hals sprossen die saugnapfüberzogenen Fangarme eines Tintenfischs, die Haut war geschuppt wie die einer Schlange. Du musst mir verzeihen, Kjell, aber manche der schartigen Zähne, die in seinen unzähligen Mäulern saßen, erinnerten an die einer Ratte, und auch mit seinem Schwanz verhielt es sich so, auch wenn dieses Ding dick wie ein Baumstamm war.
    Wir hielten uns nicht lange damit auf, die Bestie genauer zu betrachten. Wir waren nicht wegen ihr gekommen. Uns ging es um das, was ihr ein tapferer Zwerg dereinst um den Hals geschlungen hatte, als ob er das Untier damit hatte erwürgen wollen. Nun war es Lodaja, die am Leib des Plagenvaters hinaufkletterte, um die Ketten der Ewigkeit zu lösen. Die Ketten laufen an beiden Enden in zwei gebogenen Haken aus, die Guloth sicherlich tief in das Fleisch des Unholds getrieben hatte. Da dieses Fleisch inzwischen verdorrt war, ließen sie sich jetzt erstaunlich leicht herausziehen, und schon rutschten die Ketten klirrend und rasselnd zu Boden.
    Waldur hob sie auf. Ich habe sie erst später einmal gehalten, und sie wogen trotz ihrer Länge kaum mehr als eine Handvoll Taler. Das ist die wundersamste Eigenschaft des schwarzen Skaldats – dass es dem Metall, mit dem es sich verbindet, die Schwere nimmt. Ganz so, als wollte es sich bei seinem Schmied einschmeicheln, damit er vergisst, was er da verarbeitet. Den Stoff, der sich regelrecht danach sehnt, Albträume und die Sehnsucht nach Tod und Zerstörung in sich gebannt zu wissen …
    Wir traten den Rückweg an, und ich schwöre euch jeden Eid, dass er noch schauriger war als unser Abstieg in die Grotte. Warum? Weil jeder Einzelne der ruhelosen Toten verharrte, wenn wir vorübergingen, und uns den Kopf zuwandte. Dass viele von ihnen keine Augen mehr hatten, aus denen sie uns hätten anstarren können, sondern stattdessen nur aus leeren Höhlen in unsere Richtung blickten, steigerte den Schrecken noch. Sie beobachteten uns. Was mögen sie empfunden haben, wenn sie

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