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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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überhaupt noch zu Empfindungen fähig waren, die einem Lebenden etwas bedeuteten? Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen …
    Ich war heilfroh, als wir diese Welt, in der die Regeln und Gesetze von Werden und Vergehen auf so furchtbare Weise aufgehoben schienen, verließen. Auf unser Klopfen und Rufen hin öffnete uns Eisarn das Tor, das er hinter uns wieder verschlossen hatte, damit keine Streuner unter dem schrecklichen Gesinde des Plagenvaters sich in die belebten Stollen der Bärensippe verirrten.
    Nimarisawi beeilte sich sehr, ihren Zauber aufzuheben, der uns hatte aussehen lassen wie lebende Tote. Als er von uns abfiel, hatte ich das erleichternde Gefühl, als ob ich ein Hemd abstreifte, das mir von saurem Schweiß getränkt am Körper klebte.
    Meine Freude war jedoch nur von kurzer Dauer. Hinter Eisarn tauchte eine breitschultrige Gestalt auf, wankend wie ein Baum im Sturm, aber dennoch eine Armbrust im Anschlag.
    »Du hast dich versündigt«, spie Eisarns Mutter ihrem Sohn in einer vom Saufen rauen Stimme entgegen. Sie war vielleicht noch vom Rausch benebelt, aber es gab nicht genügend Bier in der Binge, um sie vergessen zu machen, was zwischen der Frucht ihres gewaltigen Leibes und uns Fremden gerade vor sich ging. »Du hast die Gebote gebrochen. Du hast dich dem Wort des Weibes widersetzt, das dich unter Schmerzen aus ihrem Schoß ins Leben schob.«
    »Mutter, lass es mich dir erklären«, verlangte Eisarn.
    »Aus dem Maul eines Frevlers können nur Lügen kommen.« Die alte Zwergin, den Bart vor Bierschaum verkrustet, bebte vor Zorn, doch wenigstens schleuderte sie nun grollend die Armbrust beiseite. Noch bevor die Waffe an der Stollenwand zerschellte, schlug sich die Sippenmutter auf die gewölbte Brust. »Und nenn mich nicht Mutter, du Made! Dieses Recht hast du verwirkt. Mein Herz ist kalt für dich. Meine Augen sehen nichts als Trug an dir. Meine Nase wittert nichts als Fäulnis. Du bist kein Kind des Bären mehr. Du bist ein Dämon, der in Fleisch von meinem Fleisch eingefahren ist. Und ich halte es, wie es zu halten ist. Ich schneide das verseuchte Fleisch aus dem Leib meiner Sippe, bevor alles brandig wird!«
    Dann vollführte sie eine verworrene Geste, bei der sie die Arme so bewegte, als würde sie ein Schwein am Fleischerhaken ausnehmen. Ich muss gestehen, auf mich wirkte sie albern, aber ich bin nun einmal kein Zwerg. Auf Eisarn zeigte sie nämlich eine ganz andere Wirkung. Er sank auf die Knie, legte den Kopf in den Nacken und heulte auf, wie wenn ihm sämtliche Nägel an den Fingern ausgerissen würden.
    Eine andere Mutter hätte dieses Gejammer vielleicht erweicht. Seine nicht. Sie kam auf ihn zu, zerrte ihm den gestohlenen Schlüssel aus der Hand, drehte sich einfach um und ging taumelnden Schrittes den Stollen hinunter, aus dem sie erschienen war.
    Und so wurde Eisarn Bairasunus zu einem Heimatlosen, einem Stück Treibgut auf dem Strom seines Schicksals … weil er für eine Bande von Abgesandten aus der Oberwelt ein ehernes Gesetz seines Volkes gebrochen hatte. Und trotzdem: Ohne ihn würden Abertausende Häute von Tristbornern in den Zelten der Pferdestämme hängen, und wer weiß? Der Fette Hengst hätte es vermutlich auch über kurz oder lang auf die haarigen Bälger der Drauhati abgesehen. Ach, wenn es nicht so viele unbesungene Helden gäbe, wäre ich fast versucht, ein Lied über den armen Eisarn zu dichten …
    »Die Ketten«, meinte Kjell tonlos, nachdem Dalarr geendet hatte. »Es sind die, nach denen Arvid suchen lässt. Die, von denen ich gehört habe, als ich in seinem Palast im Käfig unter der Decke hing.«
    Dalarr nickte.
    Dafür? Namakan ballte die Fäuste. Dafür mussten sie also alle sterben? Für eine Kette aus Stahl, Skaldat und dem Zahn eines Dämons? Für etwas, das nur Unheil bringen kann? Ein scharfer Hass brodelte in ihm hoch, der sich nicht nur gegen Arvid und Waldur richtete. »Warum hat sie euch einfach mit den Ketten ziehen lassen, Meister?«
    »Wer? Die Sippenmutter?« Dalarr bewegte die Schultern auf und ab, um das Gewicht des Rucksacks auf seinem Rücken etwas zu verlagern.
    »Ja. Ihr habt ihr doch etwas gestohlen, und ihr habt sie dazu gebracht, ihren Sohn zu verstoßen.« Namakan machte einen Bogen um eine aus dem Boden ragende Wurzel. »Ich an ihrer Stelle …«
    »Was hätte sie denn tun sollen?« Dalarr schüttelte den Kopf. »Das Tor zur Grotte des Plagenvaters war wieder verschlossen. Und dass wir überhaupt von dort wiedergekommen

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