Heldenwinter
sind – mitsamt der Ketten –, hat ihr wohl verraten, dass der Plagenvater selbst keine allzu große Gefahr mehr für ihre Sippe darstellt. Solange das Tor auch zu bleibt und keiner die ruhelosen Toten freilässt. Deshalb konnte sie gar nicht anders, als Eisarn aus der Sippe zu werfen. Wenn sie es ihrem Sohn hätte durchgehen lassen, den Schlüssel zu stehlen, hätte das ein schlechtes Beispiel abgegeben und Nachahmer angespornt. Die Drauhati sind von Natur aus neugierig. Aber sie sind nicht dumm. Was hätte sie davon gehabt, einen handfesten Streit mit uns vom Zaun zu brechen? Einen Haufen toter Zwerge: Denn kampflos hätten wir die Ketten bestimmt nicht wieder herausgerückt. Ich vermute, sie war im Grunde sogar froh darüber, dass wir die Ketten mitgenommen haben. Ein Bär beschwert sich nicht, wenn man ihm einen Dorn aus der Pfote zieht.«
»Was ist aus Eisarn geworden?« Der wehmütige Ton in Kjells Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er in dem ausgestoßenen Zwerg eine Spiegelung seines eigenen Loses erkannte. »Ich hoffe, er durfte wenigstens in Arvids Schatzkammer und hat diesen Tyrannen ein winziges Stück ärmer gemacht.«
»Du weißt, wie Lodaja war«, wandte sich Dalarr an Namakan. »Weichherzig.« Dann schloss er die anderen wieder mit ein. »Sie hat uns andere genötigt, den Zwerg mitzunehmen. Mich hat sie sogar genötigt, ihm ein Lied zu singen, als sie sah, wie verzweifelt er war. Ich sang ihm das Lied, das wir beide – du und ich – für sie und deine Geschwister gesungen haben.« Dalarrs Miene wurde finster. »Der Zwerg ist mit uns nach Kluvitfrost gegangen. Das, was dort geschah, hat nicht nur mir die Augen geöffnet. Auch Eisarn hat verstanden, dass Arvid dem Wahnsinn verfallen war. Und dass es ein unverzeihlicher Fehler gewesen wäre, ihm die Ketten zu überlassen.«
Dalarr schwieg zehn, fünfzehn Schritte, bis ihn Namakan mit einem »Und dann?« dazu brachte, weiterzureden.
»Ich weiß noch genau, was er zu mir gesagt hat, als ihm klar wurde, dass wir die Ketten aus Arvids Fängen reißen mussten. ›Ich bin einmal zum Dieb geworden, weil ich dachte, das Richtige zu tun. Jetzt, wo ich nichts mehr zu verlieren habe, weil mein Leben ohne meine Sippe ohnehin keinen Mullschiss mehr wert ist, kann ich mir das Stehlen auch gleich zur Gewohnheit machen.‹ Das war kurz nach der Schlacht, noch lange bevor ich Lodaja ein neues Auge schenken konnte. Kaum einen Tagesritt von der Feste sind wir ihm begegnet. Und dieser dreiste Kerl machte tatsächlich wieder kehrt, um Arvid die Ketten förmlich unter dem Kissen wegzuklauen. Ich hatte ihm versprochen, auf ihn zu warten, und ich hielt mein Versprechen. Lodajas Wunde musste so oder so erst heilen, ehe ich ihr das wiedergeben konnte, was ihr Waldur geraubt hatte. Ich wartete drei Tage und drei Nächte lang, nur mit einem wimmernden Säugling und einer Verwundeten im Fieberwahn als Gefährten.«
Dalarr drohte offenbar, sich erneut schweigend in seinen Erinnerungen zu verlieren. Diesmal war es Kjell, der ihn in die Gegenwart zurückholte. »Und seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen.«
»O doch«, widersprach Dalarr. »Erinnert ihr euch daran, dass man sagt, ein alter Hund würde keine neuen Kunststücke mehr lernen? Dieses Gebot gilt auch für junge Zwerge. Eisarn war zu Arvid und Waldur zurückgelaufen und forderte sie auf, ihren Triumph über den Fetten Hengst mit einem ordentlichen Gelage zu feiern. Es muss sehr, sehr ordentlich gewesen sein – ordentlich genug, um alle im Lager so betrunken zu machen, dass Eisarn an die Ketten kam.«
»Die Gefiederte rät nicht umsonst zum Maßhalten in allen Dingen«, meinte Ammorna.
»Eisarn bat mich noch einmal um etwas.« Dalarr kniff die Lippen zusammen. »Darum, die Ketten gemeinsam mit ihm an einem sicheren Ort zu verwahren. Wie hätte ich ihm diese Bitte ausschlagen können? Ich trug ja eine gewisse Schuld daran, was sich in Kluvitfrost ereignet hatte, und wer einen Haufen in die Ecke scheißt, sollte wenigstens das Abwischen nicht vergessen. Erst danach haben wir uns aus den Augen verloren. Mich zog es zu der ruhigen Beschaulichkeit auf den Immergrünen Almen, und Eisarn …« Dalarr klopfte auf seinen Rucksack, in dem er den Herzfinder verstaut hatte. »Wir werden bald sehen, wohin es Eisarn getrieben hat.«
Bisher war an Tschumilals Miene nicht abzulesen gewesen, ob sie Dalarrs langer Geschichte folgte oder ihren eigenen Gedanken nachhing. Nun zupfte sie versonnen am Gefieder eines der Pfeile
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