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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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nächste Frage, die die Händler an Dalarr richteten, gleich aus: »Kennt man dort unsere Moosbeeren?«
    Namakan entging nicht, dass die Händler alle Dalarr ansprachen, obwohl sie sich doch genauso gut an jeden anderen der Wanderer hätten wenden können. Namakan hatte außer Dalarr und seiner Ziehmutter noch nicht viele große Menschen gesehen, weshalb er zunächst davon ausging, das Interesse der Händler läge in Dalarrs auffälliger Rüstung oder seinen beiden Schwertern begründet. Erst nach und nach dämmerte ihm, dass es etwas anderes sein musste. Trug nicht auch Kjell eine Rüstung und ein Schwert?
    Er sieht anders aus, erkannte Namakan, nachdem er die Erscheinung seines Meisters mit der einiger Swemmanger verglichen hatte. Größer. Und er geht anders. Wie jemand, der genau weiß, wohin er seine Schritte setzt. Und sein Haar und sein Bart … sie schimmern wie Seide. Aber das ist es nicht. Nicht nur. Es sind seine Augen. Man will unbedingt, dass sich dieses Blau auf einen richtet. Dass er einen ansieht. So, wie man einen Freund betrachtet … oder einen Geliebten. Die Augen eines Königs …
    Namakan wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er einer eiligen Marktgängerin ausweichen musste, die ihm um ein Haar ihren vollen Korb gegen den Kopf geschlagen hätte. Es war nicht der erste Vorfall dieser Art, und auch nicht der letzte. Aus Namakans Blickwinkel heraus war alles in Swemmanger groß – nicht nur die Menschen. Er sah sich gezwungen, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, wenn er die an den Ständen ausgelegte Ware begutachten wollte, und auf den Stufen, die zum Marktplatz hinunterführten, hatte er genau darauf achten müssen, nicht ins Straucheln zu geraten. Er wehrte sich beharrlich gegen die bedrückende Vorstellung, er könnte auf eine ähnlich unerklärliche Weise, wie sein Meister die Farbe in Haar und Bart zurückerhalten hatte, auf seiner Reise geschrumpft sein. Die Wahrheit indes – die, dass die Welt um ihn herum gewissermaßen gewachsen war – war nicht unbedingt tröstlicher.
    Die Wanderer kämpften sich durch den Trubel zur Mitte des Marktplatzes vor, zu einem Brunnen, der mit einer Statue verziert war. Sie zeigte – wie hätte es auch anders sein können? – einen Mann mit breitkrempigem Hut, der sich auf einen Moosbeerenrechen stützte. Namakan brauchte ein gegrolltes »Flikka mek!« seines Meisters, um sich darüber klar zu werden, dass dort droben über den springenden Fontänen kein gewöhnlicher Bauer verewigt worden war. Arvid! Es ist wieder Arvid!
    Er kam nicht dazu, sich lange darüber zu grämen, dass der Mann, der am Ende ihrer Rache in seinem Blut liegen sollte, sich unter seinen Untertanen solch großer Beliebtheit erfreute.
    »Wo suchen wir jetzt hier nach deinem Freund?«, rief Tschumilal etwas zu laut. Sie hielt sich dabei die Ohren zu, wie sie es fast den ganzen Weg über durch die Stadt bereits getan hatte.
    Die Elfentochter erinnerte Namakan an ein Kind, das sich zu nah an eine läutende Schreinglocke gewagt hatte. Das muss furchtbar für sie sein. Noch furchtbarer als für mich. Ich habe auch noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen, aber sie? Sie hatte bisher ja nur ihre Eltern zur Gesellschaft, und ihr Vater zählt dabei nicht einmal richtig.
    Ammorna pflichtete der Elfentochter bei. »Ja, wo steckt dein Zwerg denn nun? Sollen wir jedes Haus einzeln nach ihm absuchen?«
    »Nein, nicht jedes Haus«, sagte Dalarr. »Aber eine ganz bestimmte Sorte Häuser schon.«
    Dalarr ging zum nächsten Stand, um sich eine kleine Weile mit dem Händler zu unterhalten.
    Wenig später hatte Dalarr seine Begleiter auch schon durch schmale Gassen hinunter zum Hafen geführt. Drei lange Piere, an denen Fischerboote und Frachtkähne vor Anker lagen, ragten wie die hölzernen Finger einer verkrüppelten Hand einen Steinwurf weit in die seichten Wellen des Silvrets hinein. Die Gebäude dieses Viertels waren nur gut zur Hälfte von jener Art, wie sie im Rest der Stadt das Straßenbild prägten. Die Zeichen auf den Schildern über den Eingängen dieser Häuser waren vielsagend: überschäumende Bierhumpen, sprudelnde Weinschläuche, grinsende Säue mit langen Zitzen, nackte Frauenbeine. Die andere Hälfte der Gebäude waren Lagerhäuser und luftige Hallen, wo auf hohen Holzgestellen Fisch getrocknet wurde. Demzufolge mischten sich andere Gerüche in das süße Aroma der Beeren, und so mancher von ihnen – scharfer Essig, altes Fett, Schweiß und Pisse – bot ausreichend

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