Heldenwinter
Was er nun vor sich sah, war allerdings kein Band. Es war mehr, als hätte der Gott, der den Fluss geschaffen hatte, irgendwann die Geduld verloren und gleichsam ein halbentwirrtes Knäuel aus Wasser in die Welt geworfen. Die Wassermassen des Silvrets wurden durch unzählige Inselchen und Halbinselchen, um die sie sich träge in sumpfigen Seitenarmen und schmalen Nebenflüssen herumwälzten, in ihrem Lauf gebremst.
Die Wanderer orientierten sich gemäß dem Klingen des Herzfinders stromaufwärts, und nach zwei Tagen schallte aus der Ferne ein Lied heran, das das verhaltene Rauschen und Gluckern des Silvrets übertönte.
He, ho, zieht flink die Rechen!
He, ho, auf dass sie nie zerbrechen!
He, ho, fangt sie ein, die Beeren!
He, ho, dann lasst uns Becher leeren!
Es waren Bauern auf ihren Feldern, die da sangen, ein Brauch, der auch in Namakans Heimat nichts Ungewöhnliches war. Das ließ sich von den Feldern, die dort von fleißigen Händen abgeerntet wurden, beim besten Willen nicht sagen. Die Pflanzen, die hier Früchte trugen, waren nicht einmal zu sehen, weil die Äcker vollständig überflutet waren. Nicht aus einer Laune des Flusses heraus, denn sie waren von niedrigen Deichen eingeschlossen. In den Deichen gab es Schleusentore, mit denen sich allem Anschein nach die Wasserzufuhr sehr genau regeln ließ. An jedem Tor standen zwei kräftige Bauernburschen, die die Kurbeln bedienten, mit deren Hilfe man die Flügel der Tore auf- und zusperrte.
»Flikka mek.« Dalarr rieb sich verwundert den Schopf. »Die Kurbeln sind neu. Und diese Gespanne da auch.«
Namakans Meister meinte von Ochsen gezogene Gefährte, die auf den Feldern im Einsatz waren und deren Räder so groß waren, dass die Achsen trocken blieben. Zwischen den Achsen drehte sich eine Art Spindel oder Trommel mit langen Zinken daran. Ihr Zweck wurde für Namakan erst ersichtlich, als er die sonderbare Spur betrachtete, die die Gespanne hinterließen: Vom Grund der gefluteten Äcker stiegen Tausende leuchtend rote Perlen auf, die dicht gedrängt auf dem Wasser tanzten.
Keine Perlen! Die wachsen nicht aus dem Boden. Das sind Beeren! Die Beeren aus dem Lied!
Nun begriff Namakan auch, wozu der Gesang gut war. Er spornte die Bauern an, die hinter dem Gespann hergingen, in ihrem Treiben nicht müde zu werden. Sie schoben die Beeren mit Rechen zum Rand der Felder, wo die Früchte mit Köchern gleichsam abgefischt und in große Schütten gefüllt wurden. Die Schütten wiederum wanderten auf gewöhnlichere Fuhrwerke, und es war der Lenker eines dieser Gefährte, den Dalarr durch Rufen und Winken dazu brachte, die Ochsen zu zügeln und einen Plausch zu halten.
Das Lächeln des Bauern hatte trotz aller Freundlichkeit etwas Unheimliches: Seine wulstigen Lippen glänzten in einem dunklen Rot, da er es sich anscheinend nicht nehmen ließ, ab und an eine der Beeren zu naschen.
»Ist schon Moosbeerenzeit?«, erkundigte sich Dalarr.
»I wo«, murmelte Ammorna hinter seinem Rücken. »Die Leute hier tun nur so, damit wir was zu glotzen haben.«
»Schon eine Woche schwingen wir die Rechen, edle Damen und Herren.« Der Bauer war wirklich bester Dinge. »Und es ist ein gutes Zeitgeviert für uns. Der ganze Markt in Swemmanger duftet nach Beeren, und in den Keltern platschen schon die Füße in der Maische.«
»Ich hätte es wissen müssen«, seufzte Dalarr. »Eisarn hat sich dort verkrochen, wo der Wein in Strömen fließt.«
»Dir ist er wohl zu süß, Fremder, was?« Der Bauer lachte.
»Nein, ich muss davon nur scheißen wie ein Reiher«, entgegnete Dalarr in seiner gewohnt entwaffnenden Aufrichtigkeit. »Aber verrat mir eins.«
»Gern auch zwei oder drei. Nur zu.«
»Was sind das für Wagen, die die Beeren nach oben treiben? Die habe ich hier noch nie gesehen.«
»Dann warst du lange nicht mehr hier.« Der Bauer blickte den Silvret hinunter und lupfte seinen Strohhut. »Unser guter König Arvid – möge er noch lange herrschen – hat sie uns schon vor zehn Sommern geschenkt.«
Die Freude des Bauern und seine Ehrerbietung an Arvid versetzte Namakan einen Stich, was dem Bauern nicht entging.
»Was schaut der Verwachsene so?«, fragte er Dalarr. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
24
Im Spiel der Bunten Augen gibt es nichts, was nicht als Einsatz gereichen könnte – manchmal sogar die Augen der Spieler selbst.
Aus einer Warnung des Swemmanger Stadtkämmerers Wies bon Dampening vor den Verlockungen des Glücksspiels
Wahrscheinlich war es die
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