Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
Vom Netzwerk:
falsche Erklärung des Bauern für Namakans gedrungenen Wuchs, die Dalarr dazu veranlasste, seinem Schüler noch unmittelbar vor der Ankunft in Swemmanger einen wichtigen Ratschlag zu erteilen. »Falls dich jemand fragen sollte, warum du so klein bist, antwortest du ihm, du seist ein Verwachsener, verstanden?«
    Tschumilal zeigte sich über diese Aufforderung zur Lüge verwundert, woraufhin Ammorna die Halbelfe über die genauen Gründe dafür aufklärte. »Heute«, schloss sie ihre Ausführungen, »haben es die Leute zwar üblicherweise nicht mehr auf die Schädel des Talvolks als Glücksbringer abgesehen, aber wir wollen doch nicht, dass der arme Junge beständig um Fingernägel oder Haarsträhnen angebettelt wird. Und wir können nicht ausschließen, dass es in Swemmanger noch den einen oder anderen wahnsinnigen Traditionalisten gibt, der daran glaubt, dass sich sein Leben verlängert, wenn er seinen Wein aus einem beinernen Becher trinkt.«
    Zugegebenermaßen erweckte Swemmanger dann ganz und gar nicht den Eindruck, als könnten sich dort irgendwelche Schurken versteckt halten, die nur darauf lauerten, einem Jüngling aus dem Talvolk den Kopf von den Schultern zu schlagen. Geschützt von einer niedrigen Stadtmauer, die dem Ansturm eines echten Heeres wahrscheinlich nicht sehr lange standgehalten hätte, lag es an einer Ausstülpung des Silvrets, die geradezu danach schrie, sich als natürliches Hafenbecken nutzen zu lassen.
    Reet auf den Dächern, kunstvoll geschwungenes Fachwerk in den Wänden, blau und grün gestrichene Fensterläden: Die Häuser des Städtchens wirkten höchst einladend, und die kopfsteingepflasterten Straßen waren so sauber gekehrt, dass es Namakan fast wie eine Beleidigung vorkam, sie mit seinen dreckigen Stiefeln belästigen zu müssen. Als ihm auffiel, dass neben jeder Tür ein Besen stand, fühlte er sich gleich noch schmutziger.
    Aufgrund Dalarrs Schilderungen der Reichshauptstadt, in denen viel die Rede von erbärmlichstem Elend gewesen war, war Namakan davon ausgegangen, dass es in jeder Stadt der großen Menschen vor Bettlern wimmeln musste. Zumindest in Swemmanger sah er jedoch keine einzige abgerissene Gestalt, die an einer Ecke oder vor einem Brunnen kauerte und die Vorbeigehenden um Almosen anflehte. Im Gegenteil waren überall die Anzeichen des Wohlstands zu erkennen, den die Moosbeeren den Bewohnern Swemmangers einbrachten. Männer wie Frauen trugen Jacken und Kniebundhosen aus dunklem Loden, an denen polierte Knöpfe blitzten. Die Damen zierten sich das Haupt mit federgeschmückten Hüten, die Herren mit eng anliegenden Kappen, auf die winzige rote Perlen genäht waren. Rings um die Brunnen waren Blumenkübel aufgestellt, aus denen Herbstblumen betörende Düfte verströmten. Auf jedem einzelnen Ladenschild strahlte die Farbe so frisch, als wäre sie erst gestern aufgebracht worden, und die Auslagen waren allesamt prall gefüllt.
    Als die Wanderer auf den Marktplatz kamen, erwies sich die Begeisterung des Bauern mit den rotglänzenden Lippen über die reiche Ernte als vollkommen angemessen: Es gab keinen Stand, der die süßen Beeren nicht feilbot – als lose Ware, in Kuchen gebacken, in Quark gerührt, zu Saft gepresst oder zu Marmelade eingekocht. Es handelte sich zudem um eine Spezialität, für die sich nicht nur die Einheimischen begeisterten. Namakan bemerkte an diesem Tag viele Trachten, die er zuvor noch nie gesehen hatte und über deren Herkunft ihm Ammorna bereitwillig Auskunft gab: Die Mädchen, die sich die zu Zöpfen geflochtenen Haare mit spitzen Tugendpfeilen hochgesteckt hatten, stammten aus der Möwenmark. An wessen Gürtel eine Messertasche aus fransigem Leder hing, war von den Hirschfurten angereist. Schuhe, deren perlmuttene Schnallen in allen Farben des Regenbogens schillerten, wiesen ihren Besitzer als einen Besucher von den Austerklippen aus.
    Die Vielzahl an Fremden auf dem Markt hatte einen Vorteil für die Wanderer: Man schenkte ihnen nicht mehr Beachtung als anderen Auswärtigen, und die, die ihnen zuteil wurde, war von der freundlichen Geschäftstüchtigkeit der Händler geprägt. »Wo kommt ihr her?«, war die erste Frage, die man ihnen stets zurief. Dalarr schien sich einen Spaß daraus zu machen, unterschiedlichen Fragestellern gegenüber unterschiedliche Herkunftsorte anzugeben. Doch ungeachtet dessen, welche Heimat er auch nannte – mal die Almen, mal den Schwarzen Hain, mal Städte oder Gegenden, die Namakan unbekannt waren –, fiel die

Weitere Kostenlose Bücher