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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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heraushören: Slahi Sabbas.
    »Nimm du sie!«, forderte Dalarr Namakan auf.
    »Ich?« Wie auf den flinken Beinen einer Spinne huschte Angst durch Namakans Verstand.
    »Du hast das reinste Herz von uns allen«, sagte Dalarr.
    Auf dieses Lob hätte ich gerne verzichtet … Er steckte dennoch die Arme in die Truhe und tat, was ihm sein Meister aufgetragen hatte.
    Sie … Er zuckte vor Ekel zusammen, aber er schreckte nicht zurück. Sie fühlen sich feucht an. Ganz leicht nur. Wie die Klinge eines Messers, wenn man rohes Fleisch geschnitten hat. Aber sie sind nicht kalt. Nein. Überhaupt nicht. Sie sind warm.
    Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Darunter – weit, weit entfernt, an den äußersten Rändern seiner Wahrnehmung – hörte er noch etwas anderes. Ein hungriges Heulen und Toben, ein begieriges Kreischen und Schreien. Sie wollen fressen! Sie müssen fressen , durchzuckte es Namakan. Und haben sie es nicht verdient? Nach so vielen Sommern, eingesperrt im Dunkel dieser verfluchten Truhe … Der Ruf der Kette erklang lauter in Namakans Schädel. Und ich weiß auch schon, was ich ihnen zu fressen gebe. Waldur … und Arvid … und jeden seiner Höflinge … und alle, die je vor ihm in die Knie gegangen sind … und die, die ihm vor seinen Statuen huldigen … alle … alle … die Bauern, die Geschenke von ihm annehmen … die Frauen, die davon träumen, an seiner Seite auf dem Thron zu sitzen … die Kinder, die Lieder für ihn singen … alle …
    »Namakan?«
    »Was?«, fauchte Namakan und schnappte nach der Hand auf seiner Schulter. Schade! Nicht schnell genug!
    »Namakan!«
    Die Barschheit, mit der sein Name gebellt wurde, brach den unheimlichen Bann. Namakan ächzte und starrte von den Ketten in seinen Händen zu seinem Meister, auf die Ketten, zum Meister, auf die Ketten …
    »Ich kann sie nicht lange tragen.« Es war nichts als die Wahrheit.
    »Dann los!«
    Dalarr schob ihn vor sich her auf den Gang aus der Totenhalle zu. »Nur noch ein kleines Stück, mein Junge. Nur ein kleines Stück. Ich kann dir das nicht abnehmen.«
    Aus den Augenwinkeln sah Namakan Ammornas Gesicht – kreidebleich, die Augen groß wie Teller.
    »Es ist nicht richtig, Dalarr«, hörte Namakan den Zwerg jammern. »Es ist nicht richtig. Denk doch nur daran, was es aus mir gemacht hat, sie zu tragen! Ich saufe und saufe und saufe, aber ich werde ihr Wispern nicht los!«
    »Halt den Mund!« So hart er Eisarn anfuhr, so sachte redete Dalarr weiter auf Namakan ein. »Wir sind gleich da … gleich da … du machst das gut.«
    Sie traten durch das Tor aus der Welt hinter der Welt hinaus.
    »Da sind sie!«, jubelte Morritbi vom Rand des dunklen Spiegels aus. »Allen Geistern sei Dank! Da sind sie!«
    Namakan spürte den Wind in seinem Haar. Er wehte einen abscheulichen Gestank – oder war es doch ein köstliches Aroma – in seine Nase. Verbranntes, fauliges Fleisch. Er löste den Blick von den Ketten, die er wie ein Bündel Reisig in den Armen trug. Zwischen ihm und Morritbi, die aufgeregt auf und ab sprang, loderten Flammen wie grelle Inseln auf einem finsteren Meer. Ihre Nahrung waren die Kadaver der glücklosen Schatzsucher.
    Was war hier los?
    Immer mehr Einzelheiten sickerten zu Namakan durch. Dass in einigen der brennenden Leichen Pfeile steckten – in denen, die noch genügend Fleisch hatten, um den Pfeilspitzen Halt zu bieten. Dass Tschumilal den Bogen von der Schulter geschlungen und Kjell sein Schwert gezogen hatte. Dass Dalarr diesmal nicht sang und sie bei ihrer Flucht nicht den verschlungenen Weg gingen, dem sie beim Gang zum Tor gefolgt waren.
    Schneller! Wir müssen schneller laufen!, feuerte Namakan sich selbst an. Ja, schneller! Nur zu ihnen! Die Ketten sind hungrig … Aus seiner Kehle stieg ein gehetzter Schrei. »Nein! Nein!«
    »Einen Rucksack!«, brüllte Dalarr. »Einen Rucksack verflucht!«
    Kjell verstand als Erster. Er schnappte sich einen der Rucksäcke – Ist es meiner? Der des Meisters? Wen schert es? – und schnürte ihn auf.
    »Komm, Junge! Komm!«, schrie Dalarr. »Nur noch ein paar Schritte!«
    Der Meister. Er ist da. Er ist bei mir. Er verlässt mich nicht. Namakan hatte das Gefühl, als würden sich die Ketten in seinem losen Griff winden. Er lügt. Er liebt dich nicht. Er liebt niemanden. Nur sich selbst. Du bist nur Staub für ihn! Ein Fliegenschiss!
    Dann prallte Namakan gegen Kjell. Ein trockenes Würgen schüttelte ihn, als er die Ketten in den geöffneten Rucksack gleiten ließ. »Schnürt

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