Heldenwinter
Ammorna und Namakan reihten sich hinter dem Mann vom Alten Geschlecht auf wie drei Gänseküken hinter ihrer Mutter.
»Bereit?«, fragte Dalarr.
»Tu nicht so, als hätten wir eine Wahl«, moserte der Zwerg.
Namakan nickte, und Ammorna tat es ihm gleich.
Dalarr holte tief Luft und begann in dunkler Stimme aus vollem Hals zu singen:
Motir sum, hofut min munda barar,
wigit fara a rit sotir afangar,
wist gall er wetir, wist gall er sumar.
Mit jeder neuen Silbe aus seinem Mund ging er einen Schritt voran, das Kinn stolz gereckt, die Schultern breit. Namakans anfängliche Angst, trotz bester Bemühungen vom Weg seines Meisters abzukommen, wurde durch ein Wunder des Alten Geschlechts zerstreut. Dalarr hinterließ auf der glattschwarzen Oberfläche eine deutlich sichtbare Spur: Seine Fußstapfen glommen drei, vier Herzschläge lang in einem milchigen Leuchten nach. Ich muss nur den Kopf unten halten, dann kann ich gar nicht danebentreten.
Dalarr sang weiter. Immer waren es die gleichen drei Zeilen, und die Melodie stand an Traurigkeit dem Lied, das er für Lodaja und Galt gesungen hatte, in nichts nach. Es schnürte einem die Kehle zu und hallte in den wundesten Stellen der Seele nach. Selbst Eisarn konnte sich diesem wehmütigen Zauber nicht entziehen und stellte sein Murren ein.
Den Blick starr auf Dalarrs Fußabdrücke fixiert, konnte Namakan dennoch nicht anders, als Ammorna eine Frage zuzuraunen. »Verstehst du, was er da singt?«
»Nicht alles.« Die Antwort kam als heiseres Flüstern, das in ein Schluchzen umzuschlagen drohte. »Aber er ist müde, singt er. Und dass er schlafen will, weil … weil … ihm alle Sommer und alle Winter bitter sind.«
Namakan zwang sich, an etwas Schönes zu denken, um nicht in Tränen auszubrechen. An Morritbi. An ihr Haar. Ihre Wärme. Wie ihre Lippen schmeckten. Er biss die Zähne zusammen und rang die Trauer in sich nieder. Als er sie bezwungen hatte, fiel ihm etwas auf. Wir müssten schon längst am Tor sein. Es sah nicht so weit aus. Dann begriff er, welchen Fehler die armen Menschen begangen hatten, deren Überreste er passierte. Wir laufen nicht in einer geraden Linie darauf zu. Wir gehen in Kreisen. Erst in die eine und dann in die andere Richtung und wieder zurück. Wie wenn wir Läuse wären, die an einem gekräuselten Haar entlangkrabbeln.
Schließlich erreichten sie das Tor. Dalarr trat hindurch, dann bemerkte Namakan den Schatten des Bogens über seinen Kopf gleiten. Er spürte das feinste Prickeln an seinem ganzen Körper, beinahe wie in jenen süßen und zugleich wehmütigen Momenten, unmittelbar nachdem er Morritbis Trost erfahren hatte.
Dalarr verstummte und hielt an. »Wir sind da.«
Namakan hob den Blick – und erstarrte. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Wo sind wir? Sie standen in einem Gang, dessen sanft nach außen gewölbte Wände nicht minder schwarz und nicht minder glatt waren wie der Boden unter seinen Füßen. Soweit Namakan sehen konnte, öffnete sich der Gang bereits nach wenigen Schritten zu einer hohen Halle, in der ein warmes, weiches Licht schien. Er wirbelte herum.
Ihr Untrennbaren! Hinter ihm setzte sich der Gang nicht fort, hinter ihm lag noch immer der von den riesigen Knochen bedeckte Kratergrund. Jenseits der glatten Schwärze konnte er die anderen – Tschumilal, Kjell und seine Morritbi – in ihrer Gerippelaube sehen. Sie waren alle aufgesprungen und gestikulierten wild, wobei ihre Finger wie Dolche in Namakans Richtung stachen. Er winkte mit beiden Armen und rief »Was ist?«, ohne dass die drei Notiz von ihm nahmen.
»Hampel nicht so herum.« Eisarn lachte ihn aus. »Sie hören dich nicht, und sie sehen dich nicht, du Trottel!«
»Die Welt hinter der Welt«, wisperte Ammorna wie eine Entdeckerin an den Gestaden eines neuen Reichs.
»Wo sind wir, Meister?«, fragte Namakan.
»Die Falken sind auf diese Insel gekommen, um zu sterben«, antwortete Dalarr. »Und wir Tegin sind ihnen gefolgt.«
Das trügerisch angenehme Licht in der Totenhalle des Alten Geschlechts stammte aus länglichen Ausstülpungen an der Decke, die Namakan an junge Tropfsteine erinnerten. Die Luft war jedoch trocken und schmeckte schwach nach Leder.
Eisarn eilte sofort zur nächsten Wand des grob eiförmigen Raumes. Es waren unzählige Nischen, die den Zwerg anlockten, oder vielmehr das, was in diesen Nischen zu finden war: prunkvolle Gewänder in allen Farben und allen Stoffen, mit goldenen und silbernen Fäden durchwirkt; glänzendes Geschmeide,
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