Heldenwinter
ihn zu!«, bettelte er. »Schnürt ihn zu!«
Er kippte vornüber, in Morritbis Arme.
Sie ist da. Sie ist da. Sie liebt mich. Er hörte keinen Widerspruch in sich. Also presste er sein Gesicht an ihre Brust und schluchzte erleichtert, bereit, sich im Schlagen ihres Herzens zu verlieren. Sie liebt mich.
»Warum brennen die Toten?« Das war Ammorna, irgendwo hinter ihm.
»Haben sie sich nicht bewegt?« Tschumilals zitternde Stimme. »Haben sie sich nicht bewegt?«
»Es war so, Dalarr.« Morritbi. Voll ernstem Zorn. »Hätte ich sonst meinen Feuerstaub vergeudet?«
»Sie haben recht, Dalarr.« Kjell, drängend und forsch. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Nachdem ihr verschwunden wart. Sie haben sich bewegt. Als ob sie aufstehen wollten. Wie Opfer der Plage.«
Was haben wir getan? Namakan schlang die Arme fester um Morritbi. Was haben wir getan?
27
Nur die Mutigsten unter allen Menschen erkennen die läuternde Kraft der Pein, die rauschhafte Wahrheit der Schlacht und die betörende Anmut der Grausamkeit.
Aus einer Ansprache des Skra Gul an seine Männer vor der Schleifung der abtrünnigen Stadt Südwart
Der alte Fischer, der den Wanderern sein Boot überlassen hatte, behielt recht: Er sah seinen Kahn nie wieder, denn sie brauchten ihn noch.
Getragen von den glitzernden Wassern des Silvrets, reisten sie mehrere Tage gen Süden. Niemand unter ihnen musste aussprechen, wo ihr neues Ziel lag. Der Weg ihrer Rache näherte sich seinem Ende, dem Königspalast in Silvretsodra.
Dalarr, der den Kahn steuerte, sorgte dafür, dass sie sich nie zu weit vom Ufer entfernten, wo die Strömung schwach und gut zu beherrschen war. Immer, wenn die von den Auen aufsteigenden Nebel vom Nahen der Dämmerung kündeten, landeten sie an. Dann war es inzwischen stets Tschumilal, die sich mit Kjell einige Hunderte Schritte vom Lager zurückzog, um ihm bei seiner Verwandlung beizustehen. Ammorna duldete stumm, dass die Elfentochter nun ihre alte Rolle für den Grafen ohne Land erfüllte – und zudem, so waren sich die anderen sicher, erfüllte Tschumilal Kjell nun auch Wünsche, die eine anständige Amme ihrem Mündel nicht erfüllt.
Namakan war froh, dass sie in dem Kahn unterwegs waren. Es bedeutete, dass er seinen Rucksack nicht aufsetzen musste. Er verstaute ihn jeden Morgen aufs Neue so weit von sich entfernt, wie es der begrenzte Platz auf den Planken zuließ. Trotzdem vergaß er nie, was in ihm lauerte, und ebenso wenig konnte er die schrecklichen Einflüsterungen vergessen, mit denen die schwarze Kette ihn bedrängt hatte.
Am ersten Abend ihrer Fahrt beschloss er, sich Morritbi anzuvertrauen. Er führte sie vom Lager weg, am Ufer entlang, bis unter den Stamm einer alten Weide, deren Zweige so kraftlos in den Fluss hinabhingen, wie er sich fühlte. Den Kopf im Schoß der Hexe geborgen, erzählte er ihr alles. Zunächst stockend, dann befreiter, als er erkannte, dass er sich vor ihr nicht zu schämen brauchte. Wie die Ketten sich angefühlt hatten. Was für ein abstoßender Geruch von ihnen ausgegangen war. Von ihrem furchtbaren Ruf, ihrem Hunger und den Gelüsten nach Tod und Vernichtung, die über ihn hereingebrochen waren.
»Ich habe Angst, Morritbi«, endete er. »Davor, was dieses Ding in mir angerichtet hat. Davor, was ich bereit gewesen wäre, anderen anzutun. Unschuldigen Leuten, die nicht wissen können, wie ihr König wirklich ist. Und davor, dass Dalarr mir noch einmal befiehlt, die Ketten zu tragen. Das stehe ich nicht durch. Die Macht des Plagenvaters ist zu groß.«
»Ach, Namakan.« Sie streichelte ihm das Haar, halb wie einem Geliebten, halb wie einem verunsicherten Kind. »Das glaube ich nicht. Was ich aber ganz fest glaube, ist, dass diese Macht des Plagenvaters, wie du sie nennst, nur ein Feuer in dir anfacht, das dort ohnehin schon brennt. Du hast deine Mutter und deine Geschwister verloren. Natürlich hasst du die Welt dafür, auch wenn es dir nicht immer bewusst ist. Denkst du, ich hätte diese Gedanken nicht auch schon gehabt? Als Waldur meine Mutter umbrachte … Meinst du, da hätte ich nur ihn gehasst?«
Namakan schloss die Augen und dachte an eines seiner ersten Erlebnisse mit Morritbi. Vor der Hütte der Holzfäller, als sie noch unter dem Einfluss der Pilze gestanden hatte, mit denen sie von den Spinnen gefüttert worden war. An den Tritt, den sie einem der Toten versetzt hatte. An den abgerissenen Kiefer im Schnee.
Der Schatten eines tief in ihr vergrabenen Grolls verdüsterte ihre
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