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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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schwebte das unheimliche, armlange Gespinst in der Luft. Dann krümmte es sich, um gleich darauf pfeilschnell durch die Nacht davonzuhuschen. Lautlos glitt es am Hang entlang wie ein Irrwisch und verschwand rasch aus Namakans Blick.
    »Zauberei«, wisperte er ergriffen und bildete sich ein, von dem Ring um seinen Finger ginge kurz eine brennende Hitze aus. Er ließ sein Messer fallen und rieb sich den Finger.
    »Ein gefügig gemachter Lichtgeist, der in zwei Hälften gespalten und in Amulette gebannt wurde«, erklärte Dalarr, hob Namakans Dolch auf und steckte ihn in die Scheide an dessen Gürtel. »Ein einfacher, aber wirkungsvoller Zauber. Das arme Geschöpf kehrt jetzt zu seiner verlorenen Hälfte zurück. Zu Arvid.«
    »Warum hast du das getan, Meister?«, fragte Namakan bestürzt. »Nun ist er doch vor uns gewarnt.«
    »Kann schon sein.« Dalarr bleckte die langen Zähne. »Doch verrat mir eins, mein Junge. Bist du vor dem Blitz gefeit, nur weil du den Donner grollen hörst?«

4
    An unseren Leibern verheilt keine Wunde ohne Narbe. Warum sollte es mit dem Leib der Welt anders sein?
    Sinnspruch des Talvolks
    In den Bergen braute sich ein Unwetter zusammen, als Namakan und Dalarr um die Mittagszeit in Brückheim eintrafen. Die schroffen Gipfel zu beiden Seiten des Tals fingen mehr und mehr dunkle Wolken ein, die sich an ihnen die Bäuche aufschlitzten. Die Luft war schwanger vom Geruch des nahenden Regens, der die feuchte Erde der unbefestigten Straße bald in zähen Schlamm verwandeln würde.
    Die Wanderer ließen die Höfe am Dorfrand achtlos hinter sich. Erst als sie schon die dicht beieinander stehenden, niedrigen Häuser unweit des Marktplatzes passierten, fiel Namakan auf, dass es einen bemerkenswerten Unterschied zu seinem letzten Besuch hier gab: Es ist totenstill, und niemand ist auf der Straße. Haben die Mörder auch hier gewütet?
    Lagen Brückheims Bewohner allesamt tot in ihren Behausungen? Ließen die verblühten Astern in den Vorgärten deshalb ihre Köpfe so traurig hängen? Hatten die als Schutzzeichen ins Fachwerk geschnitzten Disteln und Rosen versagt und den Tod nicht davon abhalten können, hier furchtbare Ernte unter den Halblingen zu halten?
    »Es ist zu ruhig«, stellte Namakan fest. Selbst aus dem Gasthaus, dessen Schild den ›besten Met der Almen‹ anpries, drang weder das Klirren von Krügen noch heiteres Gelächter. »Viel zu ruhig.«
    Auch die Buden auf dem Markt waren einsam und verlassen. Jeder dahergelaufene Strolch hätte sich ungesehen an den feilgebotenen Waren bedienen können. An den prallen Äpfeln und saftigen Pflaumen, an Käserädern und geräucherten Schinken. Namakan knurrte der Magen, und als sein Meister sich im Vorbeigehen einen Apfel aus einem Korb griff, folgte er seinem Beispiel. »Willst du keine Münze dalassen?«, fragte er dennoch.
    »Ich habe hier mehr als genug gezahlt«, antwortete Dalarr kauend, warf den Apfel nach einem zweiten Bissen in einen Stand mit Gänseeiern und vollführte eine ausschweifende Geste, die den gesamten Markt einschloss. »Ich habe diesen Halsabschneidern immer beste Preise gemacht.« Er zwinkerte Namakan zu. »Denkst du etwa, sie würden sich bei mir wegen zwei beschissener Äpfel beschweren? Dass sie damit drohen würden, mir die Hand abzuschlagen?«
    Nein. Das dachte Namakan nun wirklich nicht. Und seit letzter Nacht habe ich auch eine recht genaue Vorstellung, wie der Meister es nehmen würde, falls jemand von der Wache es wagt, sich ihm in den Weg zu stellen. Genüsslich biss er in das knackige Obst.
    Sie wählten die vom Marktplatz wegführende Straße, an deren Ende das imposante Bauwerk lag, dem Brückheim seinen Namen verdankte. Man munkelte, der steinerne Unterbau wäre einst von Zwergen geschaffen worden und das Talvolk hätte nur nach und nach die Teile, die von Wind und Witterung abgetragen worden waren, durch eigene, simplere Konstruktionen aus Holz ersetzt.
    Sie gingen die Straße hinunter. An quer gespannten Leinen knatterte frische Wäsche in den einsetzenden Böen, die ihnen Staub um die Füße wirbelten.
    »Ziehst du in den Krieg, Kowal Dalarr?«, krächzte eine heisere Stimme.
    Namakan zuckte zusammen, hielt nach dem Ursprung der Stimme Ausschau und entdeckte eine greise Halblingsfrau, die unter dem Vordach ihres windschiefen Häuschens auf einem Schaukelstuhl hockte. Zwischen ihren Lippen steckte eine klobige Pfeife, und ihre gichtgekrümmten Hände kraulten eine graugetigerte Katze auf ihrem Schoß. Das Vieh,

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