Heldenwinter
Feigling bin? Oder ein Eidbrecher?«
»Nein, Meister«, beeilte sich Namakan zu sagen. »Ich …«
»Schon gut, Rundbauch.« Dalarr winkte ab und starrte wieder in die Nacht. »Du hast jedes Recht dazu, zu wissen, dass ich ein bisschen von beidem bin. So wie jeder andere auch.«
3
»Es empfiehlt sich nicht, schlafende Drachen zu wecken«, sprach der Weise.
»Es empfiehlt sich, nicht an schlafende Drachen zu glauben«, entgegnete der Weisere.
Aus einem Fragment des Stummen Barden
Gedankenverloren spielte Namakan an seinem Ring, indem er seinen Daumennagel zwischen die beiden Fleischwülste schob, die das Schmuckstück fest an seinem Platz hielten. Er hatte der Versuchung widerstanden, sich während Dalarrs Erzählung am Feuer auszustrecken, denn er wollte nicht, dass sein Kopf beim Schlafen den Boden berührte. Die Vorstellung, ein Krabbelvieh mit viel zu vielen Beinen könnte ihm ins Ohr oder in die Nase schlüpfen, hielt ihn aufrecht. Kann ich auch im Sitzen schlafen? Ich werde es wohl oder übel rausfinden.
»Meister?«, sprach er Dalarr an, der nach wie vor in die Dunkelheit starrte, als gebe es dort mehr zu sehen als nur Schatten.
»Ja?«
»Denkst du gerade an Lodaja und die anderen?«
»Auch.«
»Macht es dich nicht traurig, dass du meinst, es wartet jetzt nur die Stille Leere auf sie?« Namakan waren die Ansichten, die Dalarr und Lodaja hinsichtlich des weiteren Schicksals der Toten hegten, schon immer trostlos erschienen – vor allem auch deshalb, da das Talvolk in dieser Hinsicht wesentlich freundlichere Überzeugungen hochhielt.
»Warum sollte mich das traurig machen?« Eine leise Verwunderung lag in Dalarrs Stimme.
»Weil … weil es dann nicht mehr für sie weitergeht. Weil dann alles vorbei ist.« Namakan schluckte. Ein Rascheln aus einem nahen Holunderstrauch bereitete ihm eine Gänsehaut. »Für jeden von uns, sobald der Tod uns holt.«
Dalarr neigte den Kopf hin und her, wie er es manchmal tat, wenn er ungeduldig wurde. »Du bist jung. Da schreckt dich die Aussicht, alles an dir und alles in dir könnte jemals ein Ende finden. Ich, ich bin alt, und je älter man wird, desto mehr söhnt man sich mit dieser Vorstellung aus und desto weniger schmerzt sie einen. Mehr noch. Die Stille Leere birgt etwas Verführerisches in sich. Das Versprechen einer Ruhe, wie du sie im Leben niemals finden kannst.«
»Aber wäre es nicht schöner, wenn das Talvolk recht hat?« Namakan wählte die Worte seines Einwands mit Bedacht. »Wenn die Toten in das Haus des Untrennbaren Paares kommen, wo es ihnen an nichts mangelt? Wenn sie dort bleiben, bis sie sich von ihrem alten Leben erholt haben und ein neues beginnen können?«
»Die Welt fühlt sich dem, was wir als schön oder tröstlich erachten, leider nicht im Geringsten verpflichtet, Namakan.« Dalarr hatte jenen Tonfall angeschlagen, dessen er sich ausschließlich für seine bedeutsamsten Lektionen bediente – ein ruhiges Aneinanderreihen klarer Silben. »Genau deshalb müssen wir uns auch selbst durch unser Handeln und unsere Entscheidungen darum bemühen, dass die Welt für uns erträglich wird.«
»Nur für uns?« Namakan hob einen Stein vom Boden und warf ihn in den Strauch, aus dem das unheimliche Rascheln kam. Ein erschrocken zirpender Vogel flatterte auf und verschwand in der Dunkelheit, aber die Haare auf Namakans Armen blieben weiter gesträubt. »Was ist mit allen anderen Leuten? Wie wird die Welt für sie erträglich?«
»Jeder trägt sein eigenes Joch, das niemand anders für ihn schultern kann.« Dalarr tippte sich an die Schläfe. »Hier drin ist jeder Einzelne von uns gefangen, mit all seinen offenen Sorgen und heimlichen Ängsten, mit seinen erfüllten Wünschen und seinen ersehnten Freuden, bis der Tod uns von allem Elend und von allem Glück befreit.«
Aber wenn man die Dinge so betrachtet, dann kann man sich doch gleich umbringen, anstatt auf den Tod zu warten, hätte Namakan gerne erwidert, doch er erhielt nicht mehr die Gelegenheit.
»Genug dummes Zeug geredet.« Dalarr stand unvermittelt auf, ging zu seinem Rucksack und begann, die Knoten der Schnüre zu lösen, mit denen er sein geheimnisvolles Bündel festgezurrt hatte. »Es ist Zeit.«
»Zeit wofür?«
»Dass du mir einen Schwur abnimmst.« Er wickelte die Bahnen aus Öltuch auf, und dieses Mal war Namakan sicher, das Klirren von Metall auf Metall zu hören. »Und das macht man nicht im Sitzen.«
Eilig rappelte sich Namakan auf. Was sein Meister da vor sich ausbreitete,
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