Heldenwinter
Mal war die andere Seite nah genug, um die einzelnen Zapfen an den Tannen dort drüben zu erkennen, mal verschwammen die Bäume zu einer diesigen, grünen Wand. Niemals jedoch rückten die beiden Seiten nah genug zusammen, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, mit einem Sprung über die Kluft hinwegzusetzen – das hätte sogar an der allerschmalsten Stelle nicht einmal ein Reiter auf einem der gewaltigen Menschenpferde geschafft.
In seinem Innern zog es Namakan längst zu einer anderen Düsternis hin, die ihn erschreckte: Er hatte vorhin auf der Brücke einen Mann getötet.
Er dachte an die vielen Geschichten, die Lodaja ihm und den anderen immer über die Heldentaten von Bilur Imir erzählt hatte. Davon, wie Bilur Imir den Schädel des Dämonenfürsten Ferlikan gespalten hatte. Wie Banilodur, der Anführer der Meuchlergilde von Goldfurt, von ihm mit bloßen Händen erwürgt worden war. Wie er den Sieben Blutroten Brüdern – finsteren Totenbeschwörern, deren verderbte Zauber einen ganzen Landstrich entvölkert hatten – ihr eigenes Gift aus zerkochten Leichen zu trinken gegeben hatte.
Die meisten Geschichten endeten damit, dass Bilur Imir lachend seine Siege feierte – in einer Taverne an der nächsten Reichsstraße, in der Zechhalle einer Zwergensippe, im Schlafgemach einer von ihm geretteten Edeldame.
Namakan hingegen war ganz und gar nicht nach Feiern zumute.
»Was bist du so schweigsam?«, fragte Dalarr ihn irgendwann, einen Mundwinkel mürrisch nach oben gezogen. »Hast du deine Zunge verschluckt?«
»Nein«, antwortete Namakan wahrheitsgemäß. »Ich muss nur dauernd an den Mann denken, dem ich die Hellebarde in den Kopf geschlagen habe.«
»Was ist damit?« Dalarr runzelte in leichtem Unglauben die Stirn. »Wäre es dir lieber, du hättest nicht eingegriffen und ich wäre jetzt an seiner Stelle tot? Sag es ruhig, wenn es so ist.«
»Was denkst du bloß von mir, Meister?«, fragte Namakan entsetzt.
»Im Augenblick denke ich, du weinst um verschüttete Milch und Kinder, die schon längst im Brunnen ersoffen sind. Spar dir die Tränen, du altes Klageweib. Sei kein Fifl.«
Namakan verstand zu wenig von Dalarrs alter Sprache, um zu wissen, was genau ein Fifl war, aber es klang nicht gerade schmeichelhaft. »Dieser Mann«, versuchte Namakan sich zu rechtfertigen, »er war der Erste, den ich …«
»Ach, du alter Spertill«, belegte ihn Dalarr mit einem weiteren rätselhaften Schimpfwort und winkte ab. »Das erste Mal tut immer weh, wenn man die Weiber fragt. Ich will dir sagen, wie es ist: Dieser Kerl hätte dich oder mich umgebracht, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Du hast ihn getötet, um etwas zu beschützen, das dir am Herzen liegt. Unter den Leuten, bei denen ich aufgewachsen bin, ist das eine Tat, auf die man stolz sein kann, und keine, wegen der man sich auch nur ein einziges Haar grau grämen muss.«
Das hörte sich alles richtig und nachvollziehbar an, aber dennoch reichte es nicht aus, um Namakans Unbehagen einfach fortzuwischen. »Ich bin vielleicht kein Held, Meister«, räumte er ein.
Dalarr seufzte. »Das verlange ich auch gar nicht von dir. Alles, was ich von dir verlange, ist, dass du auch beim nächsten Mal wieder zuschlägst, wenn sich jemand von hinten an mich heranschleichen will. Einverstanden?«
Namakan nickte. »Einverstanden.«
Dalarr war zufrieden. »Gut, und jetzt haben wir genug über alte Leichen geredet. Lass uns lieber über die nächste Möglichkeit sprechen, neue zu machen. Wir werden verfolgt.« Dalarr sagte dies in einem Plauderton, als wären sie ein Paar Höflinge in einem jener fernen Palastgärten, die in der Welt jenseits der Berge auf Namakan warteten. »Schon eine ganze Weile. Es können nicht viele sein, wahrscheinlich nur einer. Er stellt sich nicht sonderlich geschickt an.«
Namakan war entsetzt, achtete aber darauf, sein bisheriges Tempo beizubehalten, obwohl ihm jemand anscheinend unsichtbare Felsbrocken an die Füße gebunden hatte. »Woher weißt du das, Meister?«
»Wenn du dich umdrehen würdest – was du auf keinen Fall tun wirst, wenn dir etwas an der Unversehrtheit deiner Backen liegt –, würdest du sehen, dass nicht nur vor uns Vögel aus dem Dickicht auffliegen. Sie fliegen auch ein ganzes Stück hinter uns wieder auf, so als würden sie schon wieder von irgendetwas aufgeschreckt.« Dalarr lächelte. »Das heißt, dass wir es entweder mit den unruhigsten Vögeln diesseits der Narbe zu tun haben, oder …«
»Wir
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