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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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Dalarr die Hand hob, rechnete Namakan mit einer Kopfnuss, aber ihn erwartete noch eine weitaus unwürdigere Behandlung: Sein Meister schnappte sich ihn und warf ihn sich über die Schulter wie einen Sack Rüben. »Du verdammter Esel«, hörte er Dalarr murmeln, der rannte, als wären sämtliche Teufel aller Höllen hinter ihm her. »Hoffentlich hast du uns nicht beide mit deiner Sturheit umgebracht!«
    Namakan setzte zu einer Erwiderung an, die ihm ein lauter Knall von den Lippen riss. Ein greller Blitz blendete ihn, und eine Woge aus Hitze schlug ihm ins Gesicht. Er blinzelte und machte brennende Holzsplitter aus, die rings um ihn und Dalarr niedergingen wie ein Regen aus Feuer. Wo eben noch die Barriere aus Strohballen gewesen war, stieg von den glimmenden Rändern einer klaffenden Lücke in der Brücke dichter Qualm auf. Er schloss die Augen. Dieser Weg in die Welt jenseits der Berge – der einzige, den er kannte – war ihnen auf einen Schlag verwehrt.
    Gedämpft nahm Namakan den Jubel wahr, der unter den Brückheimern ausbrach, und einen Moment wusste er nicht mehr, wo oben und unten war. Als er begriff, dass Dalarr ihn abgesetzt hatte, öffnete er die Augen wieder und blickte in strahlende Gesichter, von denen eine schreckliche Furcht abgefallen war.
    »Es hat geklappt! Es hat geklappt!«, frohlockte der Händler, bei dem er sich zuvor erkundigt hatte, was auf der Brücke vor sich ging. Namakan ließ sich von ihm auf die Beine helfen. »Gut gekämpft, Junge! Gut gekämpft! Zum Glück seid ihr noch umgekehrt. Es wäre schade um euren Heldenmut gewesen. Wer hätte gedacht, dass in ein paar Fässern Branntwein so viel Bums steckt, hm?«
    Das hat der Meister in der Lücke in der Barriere gesehen! Fässer mit Branntwein! Namakan kam sich unglaublich dumm vor. Wie konnte ich nur am Meister zweifeln?
    Während die Menge auf Anweisung der Wache ausschwärmte, um Eimer und Bütten für eine Löschkette zu holen – man wollte ja schließlich heute nur die Breitbrücke und nicht gleich das ganze Dorf niederbrennen –, schlich Namakan betreten um Dalarr herum. Sein Meister hockte auf seinem Rucksack und sah stumm dabei zu, wie die Flammen sich durch die beiden Brückenstummel vorarbeiteten.
    »Wie sollen wir jetzt über die Narbe kommen?«, fragte Namakan in der Hoffnung, Dalarr habe ihm seinen Ungehorsam vielleicht schon wieder vergeben. »Wir können doch nicht fliegen.«
    »Die Flügel, die dich tragen würden, sind ohnehin zu kräftig, als dass ich sie mir vorstellen könnte«, knurrte Dalarr. »Aber wir brauchen auch gar keine Flügel.«
    »Nicht?«
    »Nein. Es führen noch andere Wege über die Narbe«, verriet ihm Dalarr. »Die Brücke wäre nur der bequemste gewesen.«
    »Und jetzt?«
    Dalarr klopfte auf seinen Rucksack. »Jetzt kann ich nur für dich hoffen, dass du keine Angst vor Spinnen hast.«

5
    Ein berechenbarer Handel ist wie ein fader Eintopf; das Wagnis ist die Würze eines jeden Geschäfts.
    Bedeutsamste Regel der Bitterreichen Händler
    Bis in die frühen Abendstunden hinein wanderte Namakan mit seinem Meister die Narbe entlang. Anfangs passierten sie noch die Obsthaine und die abgeernteten Felder Brückheims, die Namakan daran erinnerten, wie nah der Winter doch schon war. Nach einer Weile wurden aus den Spalieren und Feldern Weiden, auf denen die Zahl der Schafe, Ziegen und Gänse stetig abnahm, je weiter sie sich von der Siedlung entfernten.
    Schließlich, als die Sonne ihnen schon ihre Schatten ins Riesenhafte verzerrt den Weg vorausschickte, lag zu ihrer Linken nur noch Wald, in dessen Wipfeln der Wind Warnungen vor der unermesslichen Tiefe der Narbe zu wispern schien.
    Die Schlucht zu ihrer Rechten schüchterte Namakan gehörig ein, und viele Male ging er so dicht am linken Wegesrand, dass das Unterholz des Waldes nach seinem Umhang griff. Dann musste er an Hände denken, die ihn packen und in den Abgrund schleudern wollten. Und an den armen Obristen, der von einem der großen Menschen von der Brücke geworfen worden war.
    Er wagte es nicht, der Frage nachzugehen, ob die Narbe in ihrem Verlauf überall gleich tief war, denn das hätte bedeutet, regelmäßig an ihren Rand zu treten und hinabzuschauen.
    Ich weiß, was dann geschehen würde. Sie würde zu mir wispern. Spring. Spring, und du bist bei ihr und deinen Geschwistern. Spring, und du musst kein Blut mehr sehen. Du musst nie mehr etwas sehen. Spring.
    Was hingegen ohne jedes Risiko zu erkennen war, war die schwankende Breite der Narbe:

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