Heldenwinter
werden verfolgt«, brachte Namakan den Gedanken atemlos zu Ende.
»Und es spricht alles für einen einzelnen Verfolger oder zumindest eine sehr kleine Gruppe«, fuhr Dalarr fort, »weil sie sich entlang des Weges am Waldrand halten müssen, denn sonst würden wir sie zu schnell bemerken, sobald wir uns zufällig einmal umdrehen.« Er räusperte sich. »Schön, geben wir ihnen ein Schauspiel.«
Dalarr blieb unvermittelt stehen, packte Namakan an der Kapuze und schüttelte ihn. »Was? Schon wieder?«, rief er dabei laut, und einen kurzen Moment fürchtete Namakan, er könnte den Zorn seines Meisters wirklich geweckt haben. Dann bemerkte er das listige Funkeln in Dalarrs Augen. »Wie passt nur so viel Pisse in einen Bauch?« Er hob den Arm und fuchtelte wild damit in Richtung Unterholz. »Na, dann mach eben. Worauf wartest du? Dass ich dir den Hosenlatz aufknöpfe und den Gondull halte?« Er stemmte die Arme in die Hüften und fügte leiser einen Nachsatz hinzu, bei dem sich seine Lippen kaum bewegten. »Geh in den Wald, schleich dich zurück und stelle ihn.«
»Und dann?«, wisperte Namakan, dessen Gondull angesichts dieser Aufgabe derart zusammenschnurrte, dass er niemals hätte Wasser lassen können. Selbst dann, wenn das alles nicht nur eine Posse gewesen wäre.
Dalarrs Blick huschte zu dem Jagddolch an Namakans Gürtel. »Stell dich nicht dumm. Wenn es mehrere sind, zählst du sie und kommst wieder. Ist es nur einer, legst du ihn um. Du weißt doch jetzt, wie es geht.«
Namakan schlug sich ein kleines Stück den Hang hinauf, auf dem der Wald sanft anstieg.
»Aber nicht zu lange, hörst du?« Das Dickicht dämpfte Dalarrs Stimme mehr und mehr. »Oder düngst du gleich die Bäume mit? Wenn ja, dann sieh zu, dass du dir nicht die Hosen versaust.«
Namakan wandte sich nach links, in die Richtung, in der sich der mutmaßliche Verfolger befand. Er hatte drei oder vier Schritte auf dem weichen Waldboden gemacht, als sich sein Umhang an einem Ast verfing. Er streifte den Umhang ab und schlich weiter, den Blick zwischen Stämmen, Zweigen und Laub fest auf den Weg gerichtet.
Er fühlte ungefähr das, was er immer in sich gespürt hatte, wenn er früher mit seinem Meister auf die Jagd nach Murmeltieren oder Wildschafen gegangen war: eine gespannte Erwartung, die sein Herz schneller schlagen ließ und ihn zwang, sich bewusst darauf zu konzentrieren, seinen Atem ruhig zu halten.
O ihr Untrennbaren, steht mir bei!
Namakan huschte weiter durch den sonderbar stillen Wald. Da war kein Vogelzwitschern, kein sachtes Rascheln. Nur sein eigener Atem, das feine Knistern von trockenen Blättern unter seinen Sohlen – und natürlich, inzwischen wie aus weiter Ferne, Dalarrs ungehaltene Stimme.
»Muss ich dir etwa doch helfen?« Der Meister blieb in der Rolle, die er sich für dieses makabre Schmierenstück ausgesucht hatte. »Findest du was nicht? Schau eben genauer hin!«
Am Wegesrand entdeckte Namakan einen kleinen Felsen, an dem er vor gar nicht allzu langer Zeit aus der anderen Richtung kommend vorbeigegangen war. Er erinnerte sich nur aus einem einzigen Grund an ihn. Ich musste ihm ausweichen, näher an die Narbe.
Dann sah er die Gestalt, die sich hinter den Felsen geduckt hatte. Der Meister hatte recht; der Verfolger war allein. Noch dazu war es kein Unbekannter. Der Händler, dem Namakan in Brückheim begegnet war, bot ein sonderbares Bild: Mit der Kiepe auf dem Rücken und dem Bauchladen vor dem Wanst verschwand der Rest seines Körpers in dieser geduckten Haltung beinahe hinter lackiertem Holz und geflochtenen Weidenruten. Als hätten ein Schrank und ein Korb plötzlich Laufen gelernt …
Namakan näherte sich dem Felsen mit angehaltenem Atem, wählte jeden einzelnen Schritt langsam und mit Bedacht. Ich darf ihn nicht aufscheuchen, sonst … sonst was? Zweifel zupften zaghaft an seinem Denken. Er ist nur ein Händler, kein Mörder. Er hat nicht einmal eine Waffe. Aber warum geht er uns dann nach? Ich kann ihn doch nicht einfach abstechen.
Lautlos wie ein Schatten glitt Namakan aus dem Wald. Er stand so dicht hinter dem zusammengekauerten Händler, dass er seinen Schweiß und das abgescheuerte Leder der Kiepenriemen riechen konnte.
In einer Geschichte über Bilur Imir wäre der Ablauf der nächsten Augenblicke von raschem, entschlossenem Handeln bestimmt gewesen. Ein Sprung auf den überrumpelten Gegner, ein Packen seiner Haare, ein Zurückreißen seines Kopfes, damit die Kehle bloßlag. Und dann …
Namakan
Weitere Kostenlose Bücher