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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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schwerfiel, Luft zu holen: Wikowar hatte nicht nur die Arme, sondern auch die Beine um seinen Oberkörper geschlungen.
    Wenn die Spinnen kommen, sind wir alle tot! Ich schaffe das nicht. Um ein Haar hätte Namakan den Kopf zu tief hängen lassen und wäre mit der Stirn gegen einen querlaufenden Faden des Netzes gestoßen. Doch! Ich kann das. Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich es schaffe, bis zum Zeltdach zu klettern, aber ich war stark genug. Ich bin stark genug. Ich bin mehr, als ich von mir halte. Ich muss mehr sein. Der verdrängte Grund, warum er sich hier in diesem Netz wiederfand, fiel wie mit reißenden Klauen über seinen Zweifel her. Dort drüben ist meine Rache. Dort drüben kann ich es denen heimzahlen, die mein Leben in Stücke gehackt haben. Dort drüben darf ich keine Angst mehr kennen. Was ist los mit mir? Ich habe einen Mann getötet, der größer und stärker war als ich, und jetzt lasse ich mich von einem Spinnennetz einschüchtern?
    Er riss trotzig den Kopf hoch. Er sah zu einem der Beuteknäuel der Spinnen und glaubte, irgendwo unter dem dichten Gespinst ein schwaches Zucken auszumachen. Seine Finger schlossen sich noch fester um die Griffe der Soli Notur. So werde ich nicht enden. So nicht. Er hoffte, diesen stillen Schwur auch tatsächlich halten zu können.
    Die riskantesten Augenblicke bei der Überquerung der Spalte waren die, in denen Namakan und Dalarr den Faden wechseln mussten, in den sie sich bis dahin eingehakt hatten. Der Aufbau des Netzes folgte scheinbar keinem festen Plan, keinem aus einem höheren Verstand geborenen Muster. Die Fäden kreuzten und überschnitten sich wie bei einem Teppich, den ein blinder und verrückter Weber geknüpft hatte. Alle paar Schritte wurde es nötig, vom einen Faden zum anderen zu wechseln, wenn man einen mehr oder minder geraden Kurs zur gegenüberliegenden Wand der Narbe halten wollte. Jedes Mal lastete ein Großteil von Namakans Gewicht für einen kurzen, fürchterlichen Moment auf nur einem der Haken, und seine Vorstellungskraft reichte aus, um sich dann die schrecklichsten Unglücke auszumalen. Wie der Stiel des einen Soli Notur sich Stück für Stück vom Haken, an dem sein Leben hing, löste und er den anderen Haken nicht rechtzeitig genug um den nächsten Faden bekam. Wie der Faden unter seinen Kufen plötzlich nachgab, weil er wider Erwarten doch riss. Wie ihn ein Windstoß schüttelte und gegen das Netz drückte, oder schlimmer noch, ihn vom Netz herunterschleuderte.
    Aber jedes Mal ging alles gut, und Namakans Schreckensvisionen bewahrheiteten sich nicht.
    Bis sie die Mitte des Netzes erreichten, wo Dalarr jäh innehielt und ihm einen verstörenden Befehl erteilte. »Bleib, wo du bist.«
    Namakans Körper gehorchte, noch bevor die scharfe Anweisung in seinem Geist verklungen war. Die einzige Regung, die ihm noch gelang, war es, die Lippen einen winzigen Spalt zu öffnen.
    »Warum hältst du an?«
    In Wikowars Frage schwang die ungewisse Empfindung mit, die sich auch in Namakan erhob: überraschte Furcht oder furchtsame Überraschung.
    »Weil ich es satt habe, einen Verräter zu schleppen.«
    Ob der Anschuldigung nahm Wikowar erschrocken einen Arm von Dalarrs Rumpf. »Was? Ich ein Verräter? Bist du wahnsinnig?«
    »Spar dir deine Lügen, du Made. Mir brennt jetzt schon der Rücken davon.«
    Wikowars Kopf ruckte zu Namakan herum. Seine Augen waren die einer in die Enge getriebenen Ratte. »Hörst du das, mein Junge? Er ist verrückt geworden. Tu doch was!«
    Was soll ich denn tun? Namakans sämtliches Gedärm zog sich zu einem einzigen, blubbernden Klumpen zusammen.
    »Wie finden wir Skaldat, Namakan?«
    Was meint er?
    »Wie finden wir Skaldat?«, wiederholte Dalarr.
    Das Drängen in den Worten seines Meisters rief Namakan unweigerlich vor Augen, was er früher – vor dem Morden, vor der Rache – am liebsten mit Dalarr unternommen hatte: früh morgens aufbrechen, hinauf in die Berge, in die Schluchten und Spalten, um dort Adern jenes Metalls zu suchen, das Zauberkraft in sich barg. Wie finden wir Skaldat? Indem wir ein wenig zermahlenes Skaldat in die Luft streuen und sehen, wohin der Wind es weht. Skaldat findet anderes Skaldat.
    »Skaldat ruft nach Skaldat«, sagte Namakan tonlos.
    »Richtig, Junge.« Dalarr nickte. »Skaldat ruft nach Skaldat. Und das Skaldat, das dieser fette Schuft um den Hals hängen hat, kreischt und tobt. Das Skaldat in meiner Haut ist fast schon taub davon.«
    Nur langsam sickerte die Erkenntnis in Namakans

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