Heldenwinter
unvermittelte Sanftheit. »Verstehst du jetzt, warum wir ihn nicht einfach laufen lassen können?«
Er war es! Namakan sah alles so deutlich vor sich, als wäre er selbst dabeigewesen. Er ist den großen Menschen schon begegnet, bevor sie zum ersten Mal über die Breitbrücke gekommen sind. In der Welt jenseits der Narbe. ›Du bist vom Talvolk, oder?‹ – ›Sieht man das denn nicht?‹ – ›Und anscheinend bist du weitgereist und kennst dich gut aus, was?‹ – ›Aber natürlich.‹ – ›Das trifft sich gut. Wir suchen jemanden. Einen großen Menschen. Dalarr heißt er. Er ist ein ausgezeichneter Schmied. Schon mal etwas von ihm gehört?› – ›Kann sein. Was springt denn für mich dabei heraus, falls ich schon mal was von ihm gehört habe?‹ »Du Mörder. Du feiger, hinterlistiger Mörder.«
»Immer langsam mit den jungen Ponys, mein Freund.« Wikowars Mund teilte sich zu einem fiesen Grinsen. »Ich habe niemanden umgebracht. Noch nicht.«
»Wir vergeuden unsere Zeit«, bemerkte Dalarr. »Und außerdem werden mir langsam die Arme müde.«
»Dann würde ich vorschlagen, dass du endlich deinen knochigen Hintern in Bewegung setzt.« Wieder spannten sich Wikowars Schenkel, und er ließ sich überdies zu einem Zungenschnalzen hinreißen. »Na hopp, mein Grauer, na hopp.«
Dalarr rührte sich nicht.
»Du bist tot.« Ein kleiner Teil von Namakan war entsetzt über die düstere Endgültigkeit der Drohung, die er da ausstieß. Der weitaus größere Teil malte sich aus, wie er dem Händler seinen Jagddolch in die Eingeweide rammte. »Du bist tot.«
»Unfug«, gluckste Wikowar. »Wir machen es so, wie dein alter Meister hier es gesagt hat. Drüben auf der anderen Seite stellen wir dann fest, ob er wirklich denkt, schneller zu sein als mein Messer.«
»Warum so lange warten?«
In einer einzigen Bewegung so flink wie ein huschender Schatten riss Dalarr die Arme in die Höhe, löste die Haken vom Spinnfaden und ließ sich samt Wikowar rückwärts in die Tiefe fallen.
10
»Wahre Freundschaft währt ewig«, sprach der Weise.
»Die Ewigkeit kennt weder Wahrheit noch Freundschaft«, entgegnete der Weisere.
Aus einem Fragment des Stummen Barden
Dalarr und Wikowar fielen nur ein, zwei Wimpernschläge lang ins Nichts. Dann lief ein heftiges Zucken durch das gesamte Netz, als ihr Sturz von den Fäden gebremst wurde. Der Schrei des Händlers verstummte. Er landete auf dem Laden, den er sich auf den Rücken geschnallt hatte. Einige der Fächer sprangen auf und spien Kurzwaren aus – Knöpfe, Garnrollen, Schnallen, von denen manche klein genug waren, um durch die Lücken im Gespinst im unergründlichen Dunkel der Narbe zu verschwinden.
Durch Wikowars Aufprall heruntergeschleudert, verfing sich Dalarr zwischen zwei gekreuzten Strängen, Arme und Beine seltsam verrenkt. Die Stielhaken seiner Soli Notur rutschten ihm aus den Händen. Wie zum Hohn fiel einer so, dass er sich um einen tieferliegenden, schräg laufenden Faden krümmte und daran, von seinem eigenen Gewicht gezogen, der anderen Seite der Narbe entgegenglitt.
»Meister!«, schrie Namakan und kämpfte gegen den widersinnigen Drang an, wegen des Zitterns und Bebens des Netzes mit bloßen Händen nach einem Faden zu greifen.
Wikowars Faust war nach wie vor um den Griff des Messers geschlossen, aber an der Klinge klebte kein Blut. Der Händler hob zu einem schauerlichen Wimmern an. Nun bekam Namakan doch noch Blut zu sehen: In dünnen Rinnsalen quoll es über Wikowars feiste Lippen, blähte sich in seinem Atem zu Blasen auf, die so rasch wieder platzten, wie sie entstanden. »Habt Erbarmen, ihr Untrennbaren, habt Erbarmen«, jammerte Wikowar. Er versuchte, den Oberkörper aufzurichten, stieß ein schwaches Heulen aus und sank mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Laden zurück. Irgendetwas im Leib des Verräters musste schweren Schaden genommen haben, als die Wucht des abgefangenen Sturzes sich über das harte Holz des Ladens auf sein feiges Fleisch übertragen hatte. Womöglich hatte er sich das Rückgrat gebrochen oder ein paar Rippen, die dann seine Lungen durchstoßen hatten wie krude Knochenmesser. Sein Kopf pendelte einen Augenblick auf seinen Schultern hin und her. Er sah aus wie ein gerade aus einem Albtraum erwachter Schläfer, der sich umschaute, um sich zu vergewissern, dass er den Schrecken seines Traums entkommen war.
»Meister!«, schrie Namakan noch einmal.
Dalarr blieb völlig reglos, das Gesicht von seinem Schüler abgewandt.
Das Netz
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