Heldenwinter
durchtrennen. Sie ging dabei mit zielstrebigem, umsichtigem Geschick vor. Glatt und kühl strichen ihre Beißwerkzeuge über das dichte Haar auf seinem Fußrücken, und Namakan flüchtete sich in eine Illusion, um nicht vor der Berührung zurückzuweichen: Er malte sich aus, es wäre der kleine Tschesch, der ihm da neugierig an den Haaren zupfte, und nicht dieses Ungeheuer. Das Trugbild bewährte sich, und er behielt alle seine Zehen.
Ein anderes Mal hätte er beinahe doch gezuckt und womöglich sein Todesurteil besiegelt, weil eine winzigkleine Spinne gar nicht genug davon kriegen konnte, an seinem Finger mit dem Ring auf und ab zu krabbeln. Auf und ab, auf und ab, immer schneller, bis sie irgendwann verharrte und hektisch mit ihren Hinterbeinen auf ihrem eigenen Leib zu trommeln begann.
Als ihm auf der unheimlichen Reise die Blase zu zwicken und zu zwacken begann, stellte Namakan überrascht fest, wie lange sie schon unterwegs sein mussten. Er hatte vorhin auf dem Vorsprung noch eigens sein Wasser abgeschlagen, bevor sie ins Netz eingestiegen waren. Dennoch drängte der Harn in ihm jetzt recht heftig. Wenn wir nicht bald dort ankommen, wo sie uns hinbringen wollen, muss ich es wohl oder übel laufen lassen.
Diese demütigende Erfahrung blieb Namakan erspart. Der Druck auf seiner Blase war vergessen, als sie eine Halle erreichten, die größer war als alle anderen, die sie zuvor durchquert hatten. Ihr Grundriss beschrieb einen ungefähren Kreis, und die Wände stiegen als Ränder eines riesenhaften Schachts in eine hoch droben lauernde Dunkelheit empor. Im unteren Bereich der Halle herrschte indes ein gedämpftes blaues Licht, wie wenn schwache Sonnenstrahlen durch einen Saphir fielen. Es stammte von genau abgegrenzten Kolonien der leuchtenden Flechten, die in festen Mustern an den Wänden wuchsen. Das sanfte Licht selbst hätte womöglich eine beruhigende Wirkung entfaltet, wenn die Flechten die einzige Wandzierde gewesen wären. Doch dort hingen auch Aberdutzende gefangene Geschöpfe, die die Spinnen mit ihren klebrigen Fäden am Fels fixiert hatten. Nicht nur tierische Bewohner der Wälder und der Berge, wie sie Namakan auch schon draußen im Netz gesehen hatte – Hirsche, Wildschweine, Geier und Wölfe. Es waren auch Menschen darunter, große Menschen ebenso wie die kleinen Angehörigen des Talvolks. Alle Gefangenen hatten eines gemein: Ihre Köpfe lagen frei, unberührt von den Strängen, die ihre Glieder fesselten. Der Sinn dahinter war nicht zu übersehen, denn zwischen den Eingesponnenen krabbelten Spinnen umher, die die Gefangenen mit kleinen Pilzstücken fütterten. Die Gefangenen, die gerade nicht kauten, bewegten dennoch unablässig ihre Münder. Die gesamte Halle war von einem Murmeln und Raunen erfüllt, unterlegt mit den leisen Geräuschen, die tierische Kehlen hervorbrachten.
Ein Dachs brummte.
»Ich bin mit ihr in die Scheune gegangen«, flüsterte ein großer Mensch, der nicht viel mehr Sommer als Namakan gesehen haben konnte. »Erst wollte sie nicht, aber ich habe sie trotzdem geküsst. Sie hat geschrien. So laut. So laut. Ich wollte nur, dass sie leise ist. Dass uns niemand hört.«
Eine Fichtentaube zwitscherte.
»Das Feuer hat es mir erzählt.« Die helle Stimme einer Frau, von der Namakan nicht sagen konnte, ob sie nun zum Talvolk gehörte oder nicht. Klein genug wäre sie dafür gewesen. »Geh zur Spinne. Triff den König und den Prinzen. Sie bringen den Winter der Macht. Das Feuer hat mich noch nie belogen.«
Ein Fuchs winselte.
»Mutter hat mich darum gebeten«, schluchzte ein Mann mit den runden Wangen des Talvolks. »Sie war krank, und sie wusste, dass sie nicht wieder gesund werden würde. Da habe ich das Kissen genommen und es getan. Sie hat sich nicht gewehrt, und es war schnell vorbei.«
Sie verraten all ihre Geheimnisse. Namakan erschauderte. Sie reden und reden und geben ihr Innerstes preis. Hängen wir auch gleich dort oben? Was werde ich dann alles erzählen?
Ihre Trägerspinnen steuerten auf eine Art Podest in der Mitte der Halle zu, vor dem unzählige Schädel so angehäuft waren, dass ihre leeren Augenhöhlen all jenen entgegenblickten, die sich dem Podest näherten. Als seine Spinne ihn davor absetzte, konzentrierte sich Namakan einige Herzschläge lang ganz auf das wunderbare Gefühl, wieder festen Boden unter seinen Sohlen zu spüren. Die Schädelpyramide und das Podest tanzten einen Moment vor seinen Augen, während sein hart auf die Probe gestellter
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