Heldenwinter
machen. Es genügt mir, wenn ich dabei sein kann, wenn er sein Leben aushaucht. Ich würde mich nur darüber freuen, wenn du mir hinterher seinen Kopf überlässt.«
»Was hast du damit vor?«, fragte Dalarr.
»Ihn ins Herz des Hains tragen, zum höchsten Baum, und ihn ganz oben auf die Spitze setzen, damit er für immer ansehen muss, was er verbrochen hat«, erklärte Morritbi.
»Ich werde sehen, ob wir deinen Wunsch erfüllen können.« Dalarr legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es ist schön, dich an unserer Seite zu wissen.«
Namakan ächzte ungläubig.
Morritbi griff nach Dalarrs Hand und drückte sie. »Danke. Wäre es sehr dreist, euch zu bitten, einen kleinen Umweg zu machen?«
14
Fleischliche Zuwendung ist niemals freimütig zu vergeben. Wer aus einer Laune heraus das Bett mit einem anderen Menschen teilt, darf nicht klagen, wenn die Laken am Morgen von Blut getränkt sind.
Aus den Lehren des Alten Geschlechts
Namakan verstand nicht ganz, weshalb sein Meister sich darauf einließ, einen Umweg einzuschlagen. Andererseits hatte Dalarr ja auch noch immer nicht verraten, warum sie überhaupt tiefer in den Wald gingen anstatt nach Süden. Dorthin, wo der wartete, an dem sie Rache üben wollten.
Während er spürte, wie die unerbittliche Kälte ihm nach und nach die behagliche Wärme des Wassers aus den Knochen sog, lenkte Namakan seine Gedanken auf ein anderes Rätsel. Wenn es stimmt, was die Leute aus dem Wald sagen … wenn es stimmt, dass die Tannen die Barthaare eines unter dem Hain vergrabenen Gottes sind … worin habe ich dann eben gebadet? In seinem Schweiß, weil er sich immerzu windet und gegen seine Fesseln aus Erde und Stein aufbegehrt? In seinen Tränen, weil er vor Verzweiflung über seine Gefangenschaft weint? Oder in seiner Spucke, weil ihm im Schlaf der Speichel aus dem offenen Mund rinnt? Mir soll es gleich sein. Ob Schweiß, Spucke oder Tränen – das Wasser hat den Schorf an meinen Händen weich gemacht. Er lässt sich gut herunterkratzen. Und darunter ist schon wieder gesunde Haut. Ich wünschte nur, mit dem Schorf auf meiner Seele wäre es genauso …
Ein Geräusch, das ihm in der gefrorenen Stille des Schwarzen Hains fremd geworden war, klang über das Knirschen seiner Stiefel und das Keuchen seines Atems hinweg. Es war das aufgeregte Rufen und Lachen, in das größere Menschenansammlungen anlässlich eines freudigen Ereignisses ausbrachen. Eine Feier? Hier?
Dalarr blieb kurz stehen, drehte den Kopf zweimal hin und her wie eine nach dem Trippeln einer Maus lauschende Eule und stapfte nach rechts eine kleine Anhöhe hinauf. Morritbi folgte ihm ohne Zögern, Namakan hingegen erst, als sein Meister ihn vom Grat der Kuppe aus ungeduldig heranwinkte.
Das Rufen und Lachen kam aus einer Siedlung in der Senke. Spitz behauene Palisaden zäunten rund zwei Dutzend Häuser ein, wie Namakan sie noch nie gesehen hatte. Die hölzernen Gebäude wirkten, als wären sie halb im Erdboden versunken, und selbst ein Halbling hätte sich bücken müssen, um durch die niedrigen Türen in ihr Inneres zu gelangen. Auf den flachen, vom Schnee geräumten Dächern standen allerlei Bänke und Tische um die rauchenden Abzüge von Feuerstellen herum, als ob sich das Leben in diesem Dorf nicht in oder vor, sondern auf den Häusern abspielte. Von der anderen Seite der Senke wand sich ein von Wagenspuren zerfurchter Weg – eine braune Schlange im Weiß des Schnees – auf ein offenes Tor in den Palisaden zu.
Das Sonderbarste an dieser Siedlung jedoch waren die überall kreuz und quer gespannten Stricke – von hohen Stangen an den Ecken jedes Dachs zu den umliegenden Dächern, zu den Palisaden, zu den Stützpfeilern des Tors. Als hätte es ein wahnsinniges Waschweib zu gut mit Wäscheleinen gemeint …
»Ist das Tanngrund?«, fragte Dalarr Morritbi im Tonfall eines Reisenden, der nach langen Sommern an einen Ort zurückkehrte, den er aus seiner Jugend zu kennen glaubte.
»Ja.«
»Was sind das für Seile?«
»Sie schützen vor den Klauenschatten«, sagte Morritbi.
Namakan runzelte die Stirn. »Sind das nicht eher Kletterhilfen für diese Biester?«
»Die Leute sind nicht dumm«, erwiderte Morritbi. »Sie bestreichen die Seile mit Harz, und wenn ein Klauenschatten darauf landet, bleibt er daran kleben. Dann brauchst du ihn nur noch mit Pfeilen zu spicken oder mit einer Lanze abzustechen.«
»Dridd«, fluchte Dalarr. »Ist es so schlimm mit den Bar Gripir geworden?«
»O ja«, bestätigte Morritbi.
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