Heldenwinter
»Es wird schlimmer und schlimmer, seit die da sind.«
Sie deutete auf den Ursprungsort der Laute, die die Wanderer auf den Grat gelockt hatten. Ungefähr in der Mitte von Tanngrund gab es eine freie Fläche, auf der sich Scharen von Dörflern – Männer, Frauen und Kinder in dicken Jacken und mit Pelzmützen auf den Köpfen – um einen Pferdewagen drängten. Die Tiere des Gespanns – zwei Rappen, die Mähnen struppig, der Wuchs eher gedrungen – stampften ob all der lärmenden Zweibeiner um sie herum nervös mit den Hufen. In die Seitenwand des Wagens war das Reichswappen eingebrannt, und der feuerspeiende Drachenkopf ließ vor Namakans innerem Auge sofort das schreckliche Bild von Lodajas zerschundenem Leichnam aufziehen. Voller Groll sah er dabei zu, wie die Abgesandten des Königs – eine in zerschlissene schwarze Roben gehüllte, alte Frau mit weißem Haar und ein schlaksiger junger Mann, der eine von großen und kleinen Dellen übersäte Brustplatte trug – pralle Säcke von der Ladefläche herunter in die wartenden Arme der Dörfler wälzten. Die beiden Gestalten erweckten nicht den Anschein, als wären sie zu blutrünstigen Untaten fähig, doch das linderte Namakans aufwallenden Rachedurst nicht im Mindesten.
»Sie verteilen Korn«, erklärte Morritbi, und zum ersten Mal freute sich Namakan über den Abscheu in ihrer Stimme. »Die Leute freuen sich so, weil sie sonst kaum noch Nahrung finden. Die Samen aus den Zapfen reichen nicht mehr.«
Wie ein Funke, der von einem lodernden Feuer übersprang, breitete sich Namakans Verachtung auf die Dörfler aus. »Wie faul sind diese Nichtsnutze? Hier steht doch alles voller Bäume. Sie lassen sich wohl lieber von Arvids Schergen mästen wie die Gänse, anstatt selbst für ihr Auskommen zu sorgen.«
»So einfach ist das nicht.« Morritbi wies auf eine der Tannen. »Unter den Bäumen wie unter den Menschen gibt es Männer und Frauen. Die Samen der Männer sind giftig, und man kann nur die Frucht der Frauen zu Mehl mahlen. Und bei den Tannen kommt auf zwanzig Männer nur eine Frau. Die Holzfäller tun ihr Übriges: Sie töten lieber die Frauen, weil ihr Holz härter ist. Die Dörfler haben nur die Wahl zwischen Arvids Korn und dem Hungertod.«
Ich würde eher verhungern, dachte Namakan grimmig. Dieses Korn schmeckt nach unschuldigem Blut.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, merkte Dalarr an, der dem kurzen Austausch zwischen Namakan und Morritbi anscheinend nicht gefolgt war. »Ich sehe keine Soldaten, die den Wagen begleiten. So viel Leichtsinn kann sich im Schwarzen Hain schnell rächen. Nicht nur wegen der Bar Gripir. Falls den Leuten aus Tanngrund einfällt, dass sie mehr Korn brauchen könnten, als dieses merkwürdige Pärchen da ihnen zuteilen will, zahlen sie für diesen Leichtsinn vielleicht sogar mit ihrem Leben.«
»Dafür sind die Dörfler zu feige«, knurrte Morritbi.
»Ist das dein Dorf, dass du es so gut kennst?«, fragte Namakan.
Morritbi schüttelte den Kopf.
»Wie weit ist es dann noch zu deinem Dorf?«
Morritbi sah zu Dalarr. »Er hat tatsächlich keine Ahnung, was ich bin, oder?«
»Nun«, sagte Dalarr gedehnt. »Er kann nichts dafür. Auf den Immergrünen Almen gibt es keine Hexen.«
»Wir sind da!«, sagte Morritbi lächelnd.
Namakans begrenztes Wissen über Hexen beruhte auf einigen wenigen Erzählungen aus Lodajas umfangreichem Schatz an Geschichten. Sie sind leicht reizbar, stehen mit mächtigen Geistern im Bund und können Männer in Frösche oder Schweine verwandeln.
Keine der Geschichten hätte Namakan auf das vorbereiten können, was ihn in Morritbis Haus erwartete, an dem sie gegen Einbruch der Dämmerung anlangten. Es war wie die Häuser von Tanngrund halb in die Erde hineingebaut, und drinnen war es stockdunkel.
»Wartet an der Schwelle, bis ich ein Feuer gemacht habe, ja?«, bat Morritbi, ehe sie in einer hockenden Haltung durch die niedrige Tür verschwand.
Aus der Öffnung schlug den Wartenden ein beißender Geruch von scharfen Kräutern entgegen. Ein Rumpeln und Quietschen war zu hören, und Schnee rieselte vom Dach, als dort die Luke eines Feuerstellenabzugs aufklappte. Darauf folgte ein unheimliches Rascheln und Flüstern. Namakan schluckte. Mit wem redet sie da? Mit den Geistern, die ihr ihre Zaubermacht verleihen?
Wenig später flackerten die ersten Flämmchen eines Feuers und tauchten das Innere des Hauses in ein warmes Halbdunkel.
»Mach schon.« Dalarr schob Namakan voran. »Rein da.«
Namakan musste
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