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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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wurde. Lass mich dir erzählen, wie es dazu gekommen ist.« Sie stellte das leere Kistchen zurück auf das Bord und umrundete die Feuerstelle halb, um sich auf eine zweite Bettstatt niederzulassen. »Komm, setz dich zu mir.« Sie klopfte neben sich auf die Decke. »Oder hast du Angst vor der Hexe?«
    Es geschah im letzten Sommer. Der letzte Sommer war so lang, so heiß und so trocken, dass an den Tannen die Nadeln verdorrten. Selbst Mutter sagte, sie könne sich nur an einen einzigen Sommer wie diesen erinnern – den, in dem mein Vater zu ihr kam und mich in ihren Schoß pflanzte.
    Sie ist ihm an einer der heißen Quellen begegnet. Mein Haar und die Hitze in mir habe ich von ihm. Er war kein gewöhnlicher Mann. Er war ein Teil des Feuers selbst, das menschliche Gestalt angenommen hatte, weil es so betört vom Liebreiz meiner Mutter war und ihr beiwohnen wollte. Meine Mutter meinte, es hätte sie keine Überwindung gekostet, sich mit ihm einzulassen. Sie empfand es als Ehre, dass ein derart mächtiger Geist Gefallen an ihr gefunden hatte. Außerdem liebte er sie mit einer Leidenschaft, wie sie ein Sterblicher niemals hätte aufbringen können. Heiß, begehrend, unersättlich.
    Womöglich hätte er meine Mutter unter seinen Zuwendungen irgendwann verbrannt, wenn ihnen nicht immer nur eine begrenzte Zeit beschieden gewesen wäre, in denen sie ihrer Liebe zueinander Ausdruck verleihen konnten. Im Winter war seine Macht geschwächt, und es war ihm verwehrt, in stofflicher Form durch die Welt zu gehen. Nur im Sommer – wenn die Sonne auf ihrem Lauf über den Himmel am höchsten steht, an den längsten Tagen – konnte er bei ihr sein und sie bei ihm.
    Im Sommer nach ihrer ersten Begegnung brachte sie mich zu ihm, um ihm zu zeigen, dass ihre Liebe neues Leben in die Welt geholt hatte. Mein Vater nahm mich an und weckte die Kraft seines Atems in mir. Gemeinsam mit meiner Mutter lehrte er mich in allzu kurzen Sommern, mit seinem Erbe umzugehen – wie ich seine Abkömmlinge, die nicht in Fleisch gebunden sind, bitten kann, mir beizustehen. Wie ich meinen Geist öffnen kann, um den Sinn hinter ihrem Prasseln, Fauchen, Knistern und Zischen zu begreifen. Wie ich den Stoff, der die Regeln der Welt meinem Willen unterwirft, nutzen kann, um die Glut in mir zu bündeln und zu lenken.
    Wir hätten glücklich sein können, doch uns war kein langes Glück beschieden. Vielleicht hat das Schicksal meinen Vater für die stets in ihm lodernde Eifersucht bestraft. Zu den Pflichten, die sich eine Hexe selbst auferlegt, zählt, dass sie einsamen Menschen neue Zuversicht schenkt. Verliert ein Mann seine Frau oder eine Frau ihren Mann oder ist ein Mensch so lange ohne die Wärme eines anderen Menschen, dass sein Herz kalt und bitter zu werden droht, kommt die Hexe zu ihm und schenkt ihm neue Zuversicht.
    Meine Mutter nahm diese Pflicht sehr ernst – so ernst, dass sie sogar zu den Männern ging, die der von seiner eigenen Gier und Bösartigkeit verblendete König geschickt hatte, um die Bäume zu fällen. Mein Vater verstand nicht, dass dies ihre Liebe zu ihm nicht schmälerte, und noch weniger verstand er, wie sie die, die gekommen waren, um den Wald zu töten, des Nachts in ihre Arme schließen konnte.
    Wenn sie darüber in Streit gerieten, wütete und tobte mein Vater, und der Wald stand in Flammen – wie der Wald es seit der Morgenröte der Zeit immer tat, wenn sich der Zorn meines Vaters Bahn brach. Die Bäume kennen meinen Vater, und sie wissen um sein unbeherrschtes Wesen, sodass sie ihm stets verziehen und sich als grüne, junge Triebe aus der Asche ihrer alten Leiber erhoben. Sie sind ihm sogar dankbar dafür, dass er sie wieder und wieder vom Joch des Alters – ihren starren Stämmen, ihrer harten Rinde und ihren spitzen Nadelkleidern – befreit und auf wunderbarste Weise verjüngt. Sie waren Teil des uralten Tanzes von Zwietracht und Vergebung, Vergebung und Zwietracht, den alle Dinge tanzen, weil sie ihn tanzen müssen, um nicht in sich selbst gefangen zu sein.
    Die Mörder der Bäume jedoch ahnten nichts von dem Band zwischen meinem Vater und dem Wald. Sie sahen meinen Vater nur als eines: einen Feind, der ihnen die Arbeit zunichte macht und ihnen ihr Brot raubt. Sie fanden eine Verbündete in Swartjuka, einer Frau aus Tanngrund – sie war die neue Gattin eines Mannes, dem meine Mutter Trost gespendet hatte, nachdem seine erste Gefährtin heim in die Erde gegangen war, um die Bäume zu nähren. Swartjuka konnte es nicht

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