Heldenwinter
bösen Scherz mit mir!
»Ich war nicht immer die freundliche, beherrschte Person, die du heute vor dir siehst.« Ammorna seufzte. »Ich war als junge Frau das, was manche Männer gern einen Wildfang und die meisten anderen eine Kratzbürste nennen. Mein Vater zählte leider nicht zu den Freunden von Wildfängen. Es kam der Punkt, an dem er zähneknirschend eingestehen musste, dass mir mein Ruf als Kratzbürste in den Reihen vielversprechender Ehemänner zu weit vorauseilte, um mich für ihn gewinnbringend zu verheiraten. Also tat er das, was alle Väter aus gutem Hause tun, wenn sie eine ihrer Töchter nicht unter die Haube bringen und um den tadellosen Ruf ihrer Familie fürchten müssen: Er steckte mich in ein Kloster. Zu den Nebelkrähen, wie dein Meister sagen würde. Dort bin ich Lodaja begegnet. Wir haben alles miteinander geteilt: unsere Zelle, unsere kleinen und großen Geheimnisse, unsere Verachtung für unsere Väter, unser Aufbegehren gegen das strenge Regiment der älteren Schwestern …«
»Dann willst du also dabei gewesen sein, als Dalarr im Kloster aufgetaucht ist, um Lodaja zu befreien?«
»Er hat sie befreit?« Tiefe Falten zerfurchten Ammornas Stirn. »Hat er das gesagt?« Sie winkte ab. »Natürlich hat er das gesagt. Aber so war es nicht. Sie hat sich von ihm befreien lassen. Das ist ein gewaltiger Unterschied, wenn du verstehst. Doch du hast ganz recht. Ich war dabei, als diese beiden Rabauken durch den See geschwommen kamen, um um sie zu werben. Mehr noch: Wir haben die Prüfung, die sie bestehen mussten, schon lange vorher gemeinsam ausgeheckt. So wollten wir dafür sorgen, dass es auch der Richtige für uns ist, falls sich doch einmal ein Freier auf unsere Insel verirren sollte. Und Lodaja hatte Glück. Für sie ist jemand erschienen. Für mich jedoch … nun, sagen wir der Einfachheit halber, es war nie der Richtige für mich dabei.«
Das kann nicht wahr sein. Namakan presste die Lippen zusammen. Sie lügt.
»Du glaubst mir wohl nicht?« Ammorna deutete Namakans Miene völlig zutreffend. »Schön, dann lass es eben bleiben. Ich bin nur eine Aufschneiderin, die zufällig weiß, dass Lodaja gekochten Kohl nicht ausstehen konnte. Dass sie immer, wenn ihr etwas herunterfiel oder ihr ein sonstiges Missgeschick unterlief, dreimal laut ›Diese verfluchten Kobolde!‹ schimpfte. Oder dass sie nur über solche Zoten richtig lachen konnte, die auf irgendeine Art und Weise mit einem Abort oder wenigstens einem krachenden Furz zu tun hatten. Schon recht, schon recht, kleiner Mann. Du weißt es besser, und ich bin eine Lügnerin.«
Namakan sah sie fassungslos an. Es stimmt. Es stimmt alles. Sie war ihre Freundin. Sie sieht doch sogar ein bisschen aus wie sie, nur nicht so hübsch und viel, viel faltiger. Binnen eines Wimpernschlags fand sich Namakan in den Fängen seiner Trauer wieder. O ihr Untrennbaren! Ich vermisse sie so sehr. Er wandte sich von Ammorna ab und vergrub sein Gesicht in den Händen. Ich vermisse sie alle so sehr. Und wir könnten Arvid noch so oft töten, keiner kann sie mir je zurückgeben.
»Sie hat ihren Frieden gefunden«, sagte Ammorna ruhig. »Aber es ist dennoch unsere Pflicht, sie und deine Geschwister zu rächen. Nichts wird deinen Meister davon abhalten, und er wird uns alle mitreißen. Wir sind nur Treibgut in der Flut seines Zorns. Ich wusste seit Tagen, dass unsere Wege sich kreuzen würden.«
»Wie das?« Namakan schluchzte fast.
»Auf der Fahrt von der letzten Mühle in den Hain schaute ich in den Himmel. Am Morgen war er noch ganz klar gewesen, doch nun … Ein Sturm braute sich zusammen. Wolkenfetzen wirbelten umeinander, immer schneller, als würden sie in einen Strudel hinabgezogen. Düsterer und düsterer wurden sie, als malte jemand mit schwarzen Pinselstrichen ein Bild, in das er seine gesamte Bitternis zu bannen suchte. Und dann sah ich, wozu die Wolken sich da ballten. Es war ein Hirsch, wie aus dem Gewand der Nacht selbst gewoben, das ausladende Geweih mit den unzähligen Enden zu einem tödlichen Stoß gesenkt. Da wusste ich, dass er nicht fern sein kann, denn Dalarr trägt den Namen des stolzen, wilden Geschöpfs, das ich da vor mir sah.«
Namakan wischte sich die Tränen aus den Augen. »Bist du eine Seherin? Blickst du in die Zukunft?«
Ammorna zeigte ein beinahe schamhaftes Lächeln. »So viel Hochmut ziemt sich nicht. Ich bin nur eine einfache Frau, die danach strebt, die Zeichen zu deuten, die mir meine Herrin in ihrer unerschöpflichen Gnade
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