Heldenwinter
dich das eigentlich? Du hast doch dein eigenes Mündel, oder nicht?«
Ein Fiepen und Scharren.
»Ja, ja.« Das Rascheln von Stoff. »Du bist so halsstarrig wie eh und je.«
Schnee knirschte unter raschen, zielstrebigen Schritten.
Worüber streiten sie sich da? Namakan wälzte sich auf die Seite. Über mich? Er öffnete die Augen.
Der nahende Tag schob sich als tristes Grau in den aufhellenden Himmel. Namakan sah seinen Meister an der Glut des Feuers sitzen, den Kopf gesenkt, die Hände im Schoß.
»Meister?«, flüsterte er.
Dalarr schaute auf, betrachtete Namakan einen Moment mit sorgenvoller Miene und öffnete dann so langsam den Mund, als kostete es ihn schier übermenschliche Kraft, seine Kiefer auseinander zu zwängen.
Dann erhoben sich aus dem Wald furchtbare Schreie. Morritbi schreckte auf und sprang auf die Beine, eine Hand schon an dem Beutelchen mit Skaldat, das an ihrem Gürtel baumelte.
»Es ist nur Kjell«, erklärte Dalarr der Hexe ruhig, doch sein Blick ruhte weiterhin auf Namakans Gesicht. »Nichts, worüber es sich lohnt, große Worte zu verlieren.«
Namakan kannte seinen Meister gut genug, um zu begreifen, dass er an diesem Morgen nicht mehr erfahren würde, wozu Ammorna ihn hatte drängen wollen. Und wenn ich Pech habe, werde ich es niemals erfahren. Eher würde man einen Stein zum Sprechen bringen, als ihm etwas zu entlocken, das er für sich behalten will. Also schwieg Namakan, stand auf und schlurfte zur Quelle, um sich den Schlaf aus den Augen zu waschen.
Der zweite Tag ihres Marsches zu einem Ziel, das allein Dalarr kannte, war noch anstrengender als der erste. Der Grund dafür war das Gelände: Immer steiler wurden die Hänge, die sie erklommen, und mehr als einmal mussten sie die Wurzeln der allgegenwärtigen Tannen als Kletterhilfen nutzen. Bald waren alle außer Atem, und an längere Wortwechsel war nicht zu denken.
Selbst bei ihrer kurzen Mittagsrast verhinderte die allgemeine Erschöpfung jegliche Plauderei. Sie kauerten sich einfach nur im Schutz eines umgestürzten Baumriesen zusammen, aus dessen verrottender Rinde Schwammpilze von der Größe von Schweinehälften sprossen, und kauten an ihren Tannenfladen und ihrem Dörrobst. Danach rieben sie sich noch eine Weile die brennenden Muskeln in Armen und Beinen, ehe ihr unerbittlicher Antreiber das Zeichen zum neuerlichen Aufbruch gab. Weiter und weiter ging ihr steiler Anstieg, höher und höher hinauf, bis jeder Schritt und jeder Atemzug eine Qual war. Namakan entwickelte ein ausgesprochen großes Verständnis dafür, warum die kleinen Esel, die so manchen Mühlstein auf den Almen antrieben, manchmal einfach stehengeblieben waren – und warum sie weder gutes Zureden noch Peitschenhiebe wieder hatten in Bewegung setzen können.
Umso dankbarer war er dann, als Dalarr endlich verkündete: »Für heute reicht es.«
Als Lagerplatz hatte er offenbar eine Gruppe dorniger Sträucher auserkoren. Zuerst wunderte sich Namakan darüber, doch er stellte schnell fest, dass die Sträucher einige hilfreiche, wenn auch ungewöhnliche Eigenschaften aufwiesen: Sie wuchsen in einem vollkommenen Rund, sodass sie nicht wie zufällig gewachsen wirkten, sondern von der Hand eines vernunftbegabten Wesens angepflanzt. Verstärkt wurde diese Wirkung durch eine auffällige Lücke, wo ein Strauch hätte sein sollen, aber keiner war. So entstand ein schmaler Durchlass ins Innere des Kreises, wo der Boden anstelle von Schnee mit trockenem Laub bedeckt war. Dieser Umstand ergab sich, weil die Zweige der Sträucher sich dort ungefähr in Dalarrs Kopfhöhe nach innen neigten und zu einem schützenden Dach verflochten waren. Unmittelbar über der Mitte des Runds befand sich wie als Abzug für eine Feuerstelle ein Loch in diesem Geflecht, was ein weiterer Beleg dafür war, dass diese sonderbare Laube ihre Entstehung wahrscheinlich keiner bizarren Laune der Natur zu verdanken hatte.
Namakan war zu erschöpft, um sich lange den Kopf über dieses Rätsel zu zerbrechen. Noch dazu trug ihm sein Meister auf, Feuer zu machen, und bis er das dafür nötige Holz gesammelt und die Flammen entfacht hatte, war er zu der Überzeugung gelangt, dass jemand, der einen solchen hervorragenden Unterschlupf für Wanderer schuf, gewiss keine durch und durch bösartige Kreatur sein konnte.
Dalarr beschloss derweil, auf die Jagd zu gehen. »Heute Abend gibt es Fleisch. Mir hängen die Tannenfladen zum Hals raus«, sagte er verächtlich, und so wunderte es Namakan ein wenig, dass
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