Heldenzorn: Roman (German Edition)
gestreift.«
Nesca, die Cardas Liebkosungen einen Augenblick schweigend genossen hatte, hob den Kopf. »Warum kommt er nicht? Er muss doch gehört haben, was vorgefallen ist. Ich will ihm sagen, was Rukabo über ihn denkt. Ich will aus seinem Mund hören, dass es nicht wahr ist. Er liebt mich doch, oder?«
Teriasch war sich nicht sicher, ob es das Leid oder die Hoffnung in Nescas Stimme war, die ihn schwer schlucken ließ. Und er schauderte, als er darin den Widerhall jener Worte zu hören glaubte, mit denen der Kala Hantumanas ihn so oft bedrängt hatte. Was geschieht, wenn Rukabo recht hat? Die Antwort überstieg seine Vorstellungskraft. Er war immer noch ein Fremder hier, ein Kind der Steppe, das nur darüber mutmaßen konnte, wie die Harten Menschen derlei Zwiste regelten. Trotz all der Schrecken und all der Wunder, die er in seiner Zeit unter diesen Leuten erlebt hatte, gaben sie ihm noch immer Rätsel auf – auch und gerade die von ihnen, die sein Herz gegen seinen Willen am tiefsten berührt hatten. »Du sprichst von diesem Mann, als wäre er dein Vater«, stellte er fest.
»Und?« Nescas Kopf zuckte zu ihm herum. Ihre Augen funkelten zornig. »Er mag nicht mein Vater sein, aber sehe ich ihn nicht viel öfter als den Mann, der mich gezeugt hat? Zeigt er mir nicht auch viel öfter, wie viel ich ihm bedeute? Höre ich von ihm nicht viel öfter freundliche Worte? War er nicht dabei, als ich in die Welt kam? Hielt er nicht die Hand meiner Mutter, als sie in den Wehen lag? Wozu macht ihn das?«
Teriasch schwieg. Vielleicht macht es das Verbrechen nur noch schändlicher …
»Setzt Euch aufs Bett, Hoheit!« Carda tätschelte Nescas Hals und zwang sie mit sanftem Druck nieder. »Ihr müsst erschöpft sein.«
»Ich …« Nesca blinzelte und begann, sich die Augen zu reiben. »Ich bin nicht müde.«
»Legt die Beine hoch, ja?« Carda ging vor ihr in die Hocke und umfasste behutsam ihre Fesseln. »So ist es gut, Hoheit.«
Nesca wischte mit schlaffem Arm zwei, drei störende Wälzer beiseite und angelte dann nach einem Kissen. »Warum kommt er nicht?«, wiederholte sie schläfrig ihre Frage, während sie sich um das Kissen herum zu einem Ball zusammenrollte.
»Ihr seid nicht die einzige Pupula, um die er sich zu sorgen hat.« Carda deckte ihre Gebieterin zu und streichelte ihr die Wange. »Ihr habt es doch selbst gesagt: Wie ich Eure Schwestern einschätze, hat sie der Anschlag im Bad noch schwerer erschüttert als Euch selbst. Und ich rede nicht nur von den beiden, die dabei gewesen sind. Ihr wisst, wie sie sind. Schreckhafte Hühner, die bei dem kleinsten Schatten, der auf sie fällt, flattern und gackern.« Der Tonfall der Scharlachroten Rose ähnelte immer mehr dem, mit dem Teriasch von Pukemasu als Kind getröstet worden war, wenn er wieder einmal von brennenden Pferden und dunklen Zelten geträumt hatte. »Und so kurz vor dem Thronbesteigungsfest hat er sicher viele andere Pflichten. Denkt daran, schon in wenigen Stunden wird der Nachthimmel von dem ersten Feuerwerk erhellt werden, das den Beginn der Feierlichkeiten einläutet. Bis dahin ist sicher noch viel zu tun. Er hat an der Lobesrede zu feilen, Speisen für Bankette vorzukosten, die Gesandten ferner Reiche zu begrüßen …« Cardas letzter Satz verklang in einem Flüstern.
Nescas Augen waren geschlossen, ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig.
»Was hast du mit ihr gemacht?«, fragte Teriasch leise.
»Du bist sehr aufmerksam.« Carda sprach laut und klar, als bestünde nicht die geringste Gefahr, Nesca aus ihrem Schlummer zu wecken. »Aber das habe ich nicht anders erwartet.«
Teriasch fiel eine Nacht vor einigen Monden ein, in der er schon einmal erlebt hatte, wie Menschen ruhig weiterschliefen, die eigentlich hätten erwachen müssen. In einem Zelt, in dem ein Geist der Geschichten eine Melodie auf seiner Laute gespielt hatte. »Hast du sie verzaubert? Womit?«
»Du traust mir zu viel zu. Ich habe sie nur mit dem Süßen Dorn gestochen.« Carda streckte die Hand aus. Auf der Kuppe ihres Mittelfingers balancierte sie eine feine Nadel, die kaum dicker als ein Haar aus der Mähne eines Pferdes war. »Meine Schwestern und ich verstehen nicht nur, mit groben Werkzeugen umzugehen.« Sie bewegte die Finger, und die Nadel war wieder verschwunden. »Wir wissen auch genau, an welchen Stellen man stechen muss, um keinen Schmerz zu verursachen.«
Ist sie eine Verräterin? Waren all die anderen Anschläge nur ein Spiel, eine Ablenkung? Teriasch
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