Heldenzorn: Roman (German Edition)
nicht den geringsten Schmerz, doch zwischen den Fingern, die er fest um den Kristall geschlossen hatte, quoll ihm satt und dunkel das Blut hervor. Er dachte an alles, was ihn Pukemasu über Geister gelehrt hatte und darüber, wie in ihren Reichen das Tatsächliche mit dem Scheinbaren verknüpft war. Und er begriff, dass der Traum, den er träumte, nicht vergebens war.
22
Für die große Ehre, dem Dominex so nah zu sein wie
niemand anders sonst, ist das eigene Augenlicht
ein kleiner Preis, den man lachend entrichtet.
Feste Auffassung unter den blinden Leibdienern des Dominex, denen allein es gestattet ist, das Haus Seiner Herrlichkeit zu betreten
Schier unermesslich weit spannte sich die goldene Kuppel über die Thronhalle, und schier endlos war die Zahl der Stufen der breiten Treppe, die sich in Dutzenden Windungen innen am Gewölbe nach oben schlängelte. Anstatt die Hand auf das üppig verzierte Geländer zu legen, hatte Teriasch die schweißnassen Finger um die Schriftrollenhülle geschlossen, in der Schwarzschwinges Zahn verborgen war. Es war eine sinnlose Geste, aber Teriasch konnte nicht anders. Aus der schwindelerregenden Höhe, in die er mit Nesca und Carda bereits hinaufgestiegen war, sah der Thron des Dominums – eine über und über mit Geschmeide und edlen Tüchern behängte Monstrosität, auf der selbst Gigas mühelos hätte Platz nehmen können – winzig aus. Mehr noch: lächerlich. Das teure Spielzeug eines verzogenen Kindes, das nicht wusste, was Not und Elend waren.
Neben seiner Pracht verblasste selbst das Gewand, das Nesca für den Besuch bei ihrem Vater angelegt hatte. Wie jenes, in dem sie in den Stallungen der Arena erschienen war, umschmeichelte es ihren Leib wie eine zweite Haut aus Samt, Seide und silbernem Brokat, bis auf die Ärmel, die auffallend lang und weit waren. Nesca setzte jeden ihrer Schritte mit einer ruhigen Entschlossenheit, für die Teriasch sie bewunderte und die ihm Cardas Geschichte über Tamnis Vermählungsumzug ins Gedächtnis rief. Sie mag nicht das Kind des Mannes sein, den sie ihren Vater nennt, aber sie ist ohne jeden Zweifel das Kind ihrer Mutter.
Das letzte Stück zum Scheitelpunkt der Kuppel war eine Art Steg, dessen Balustraden links und rechts Teriasch besonders niedrig erschienen. Der Steg führte zu einer achteckigen, säulenhaften Konstruktion, die vom Kuppelzentrum herabhing wie ein einzelner, verlorener Tropfstein.
Auf der Plattform um den Auswuchs im Zentrum der Kuppel hielt ein halbes Dutzend Gardisten Wache. Teriasch kannte die Vorliebe der Harten Menschen, ihr Kriegsgerät mit Symbolen von Löwen zu schmücken, doch hier – so nah am Mittelpunkt der Macht ihres Reiches – verzichteten sie auf Symbole: Die Umhänge der Männer waren die Felle echter Löwen, deren reißzahnbewehrte Schädel ihnen als Helme dienten. Selbst die Knäufe der Schlachthämmer, auf denen ihre Hände ruhten, waren echte Löwenpranken, die ein kundiger Präparator für die Ewigkeit haltbar gemacht hatte.
Teriasch hätte erwartet, dass die Löwengardisten sie aufhielten, weil die ursprünglich angedachte Zeit für Nescas Erscheinen noch gar nicht gekommen war. Stattdessen öffnete einer von ihnen wortlos das schmale Goldtor, das ihnen Einlass ins Innere der Säule gewährte. Dort erwarteten sie weitere Stufen, bei deren Anblick Teriasch die Beine noch schwerer wurden, als sie es ohnehin schon waren: Eine Treppe aus Eisen wand sich in engen Spiralen nach oben. Er nahm sie mit pochendem Herzen in Angriff.
Schließlich betraten sie jenen Raum, von dem er bislang immer nur als »die Kammer an der Spitze der Großen Kuppel« gehört hatte – eine Bezeichnung, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht einmal im Ansatz gerecht wurde. Offene Bogengänge, die ein weites Rund umspannten und dem Betrachter erlaubten, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen, stützten ein hohes Gewölbe, unter dem sich jeder Mensch klein und unbedeutend vorkommen musste. Dieser Eindruck entstand nicht nur allein durch die puren Ausmaße. In die Decke eingelassen waren unzählige Edelsteine, die gemeinsam eine Karte des gesamten Dominums ergaben: Meere und Flüsse aus Saphiren, Felder und Wälder aus Smaragden, Gebirge und Hügel aus Topas und Tigeraugen, Straßen aus Obsidian und Städte aus Rubinen. An goldenen Ketten hingen gewaltige Feuerschalen, die die Steine in der Karte glitzern und funkeln machten, als wollten sie die Stadt draußen lehren, wie man sich gegen das Dunkel zur Wehr
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